Pressestimmen

Zur Besinnung kommen

60 Minuten Passionskonzert in St. Marien 
 
Man hetzt und rennt ja weiter trotz aller Vorsätze, doch endlich einmal der Sache mit der Fastenzeit einen Inhalt zu geben. Mal weniger Süßes, mal einen Tag das Smartphone aus. Die Alkoholabstinenz muss ich mir nicht vornehmen, ich trinke sowieso nur mit Gästen. Deshalb bin ich Kantor Erik Matz eigentlich jedes Jahr aufs Neue dankbar, dass er zum Passionskonzert einlädt. An dieser Stelle wurden in St. Marien schon ganze Passionen aufgeführt. Vor ein paar Jahren gab es ein Passions-Tripel, drei Konzerte unterschiedlicher Art. In diesem Jahr blieb es schlichter: Matz saß an der Orgel, Pastorin Iris Junge rezitierte passende Texte.
Es ist in diesem Jahr auch Zufall, dass der Ramadan in die christliche Fastenzeit fällt. Kürzlich sprach eine Kirchenfrau im Radio dazu und über ihre Erkundungen bei Moslems und Christen. Das Ergebnis war keineswegs überraschend, denn alle Vertreter aus den doch so unterschiedlichen Konfessionen sprachen davon, dass diese Zeit ihnen Ruhe gäbe, Innehalten ermögliche und Nachdenken anschöbe. Vielleicht ließe sich daraus einmal Begegnung machen? Wenn der Ramadan wieder in die 40 Tage fällt? Es wird noch eine Weile Zeit bleiben bis dahin …
 
Die 60 Minuten Passionskonzert in St. Marien 2024 sahen eine recht große Zuhörerzahl, bedenkt man das schöne Wetter und das kleine Format. Offenbar ist das Bedürfnis nach Einkehr doch ganz schön groß; gerade in diesen unruhigen, beängstigenden Zeiten. Die Texte aus dem Matthäus- und Lukasevangelium sprachen auch über das Versagen von uns Menschen – wie groß ist doch unsere Unfähigkeit, Frieden zu schaffen derzeit? Denn: „Das Volk stand da und sah zu.“ Vorab gab es die immer gültige Warnung: „Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen.“ 
 
„Wenn mir am allerbängsten / wird um das Herze sein, / so reiß mich aus den Ängsten / kraft deiner Angst und Pein“, dichtete Paul Gerhard im 17. Jahrhundert. Iris Junge rezitierte den Text dieses alten Kirchenliedes. Sollten wir uns so sehr verlassen auf einen Menschen, der nach der Überlieferung an der Seite Gottes sitzt, an dessen Tod wir aber nicht unschuldig sind? Und so ist Passionszeit auch eigenes Befragen.

Erik Matz begleitete die Stunde mit Noten von Max Reger, Charles-Marie Widor, Louis Vièrne und – natürlich – Johann Sebastian Bach. Dieses Konzert verlangt nicht nach einer Konzertkritik, sein Anliegen war ja ein anderes. Es kamen getragene Noten zu Gehör, die der Zeit gerecht wurden. Erst bei Louis Vièrnes Fantasiestücken op. 51 wurde es optimistischer, allerdings schräg-dissonant. Das Ende jedoch war Überwältigung, Staunen und Kraft: Bachs Präludium und Fuge a-moll BWV 543. Der Mann an der Orgel forcierte nicht übermütig und hielt das Stück so durchsichtig, dass das Hauptthema gerade noch hörbar blieb. Gewaltige Schlussakkorde – atemlose Stille. Es war eine beeindruckende, anrührende Stunde, die man sich viel öfter gönnen müsste.

Barbara Kaiser, 18. März 2024
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Tradition zum 3. Advent

Zur Aufführung des Weihnachtsoratoriums in St. Marien 
 
Klingt das strahlende D-Dur des „Jauchzet, frohlocket“ in diesem Jahr nicht ein bisschen mehr nach Hohn? Und dieses „Friede auf Erden“? Friede auf Erden (Lukas 1,14), schrieb Dietrich Bonhoeffer, sei kein Problem, sondern „ein mit der Erscheinung Christi selbst gegebenes Gebot.“ Das wäre wunderbar! Seit ich von einem befreundeten Theologen lernte, dass die Übersetzung nicht heißt „Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen“, sondern „Friede auf Erden den Menschen Seines Wohlgefallens“, zweifle ich an dieser Botschaft sowieso. Welche Menschen fallen seit Jahren durch das Raster „Seines Wohlgefallens“? In diesem Jahr sind es auf jedem Fall wieder mehr geworden, und der Krieg im Heiligen Land wird immer grausamer geführt. Versöhnung? Nirgendwo. Nicht einmal ein vager Gedanke an Verständigung, keine Hoffnung, nirgends die Vision, dass Frieden doch gelingen muss!
 
Die Jahreslosung der Evangelischen Kirche für das Jahr 2024 lautet: „Alles, was ihr tut, geschehe aus Liebe.“ (1. Korinther 16,14). Die Liebe sei die Grundhaltung eines christlichen Lebens, predigte Paulus. Nicht nur eines christlichen Lebens, alle großen Weltreligionen verkündigen Ähnliches. Aber wie wurde dieser hehre Satz zuschanden geritten? In der Advents- und Weihnachtszeit tun wir so, als wäre die Welt trotzdem in Ordnung. Vielleicht ist der Mensch so, dass er diese Art der Verdrängung braucht, um nicht zu verzweifeln? 
Auf der Weihnachtsgrußkarte der Woltersburger Mühle schreibt Gerard Minnaard, Pastor und Sozialarbeiter, dass einem das „Frieden“ derzeit im Halse stecken bleibe, es aber deshalb umso wichtiger sei, „dass wir einander im Alltäglichen helfen, Unsicherheiten auszuhalten“ und „einander daran erinnern, das Heute verantwortungsbewusst zu gestalten für uns und die, die nach uns kommen“.
 
Das durfte oder musste man mitdenken im Konzert zum dritten Advent, mit dem Erik Matz seit 2019 wieder zum traditionellen Weihnachtsoratorium einlud. Nach Jahren der Pandemie, in Zeiten multipler Krisen und des Kriegsgeschreis. Matz hatte jedoch ähnliche Gedanken wie hier beschrieben, denn er sagte vorab: „Ich gehe mit einem sehr guten Gefühl in die Aufführung. Wir hören jeden Tag so schreckliche Nachrichten, so dass das Eintauchen in die Musikwelt von Johann Sebastian Bach der Seele und dem Gemüt gut tut. Vielleicht hören wir in diesem Jahr auch die eine oder andere Passage anders: „Harte Krippen“, „Gefahr und Ungemach“, „Todes Schrecken“. Gespielt wurden die Kantaten 1, 3 und 4. Die St.-Marien-Kantorei und die Solisten Yuna.-Maria Schmidt (Sopran), Nicole Dellabona (Alt), Manuel Günther (Tenor) und Konstantin Heintel (Bass) wurden begleitet vom Orchester Hansebarock Hamburg.
Kantate Nr. 1 war wirklich die zum Versinken. Die Kantorei begann prägnant und entschieden ihr „Jauchzet, frohlocket“. Glockenrein und deutlich artikuliert die Solisten, in bester Übereinkunft mit dem Orchester von Beginn an. Die Geschichte ist ja allbekannt. Erik Matz erzählte sie mit allen Beteiligten zügig, in größtmöglicher Lässigkeit, ohne barocken Brei, in frischer Weise - wie neu. Eine Darbietung, die fröhlich stimmte, ja glücklich machen konnte. Das Orchester präsentierte vorzügliche Holzbläser, das Blech ein Ohrenschmaus genauso wie die Streichersoli. Die Chöre blieben stimmstark und sehr beeindruckend bis zum Schluss; vor allem fielen die weiter konsolidierten Männerstimmen auf. Keine Spur von „matten Gesängen“ also, wie es im Text heißt.
 
Die 2. Kantate fiel weg, Erik Matz ließ nur kurz den Text anrezitieren: Die Hirten, die Engel und der „Friede auf Erden“ – als drängende Mahnung deklamiert. Das ist eine interessante Lösung. Die Kantaten 3 und 4 sind nicht der laute Jubel, sie sind bedenkender: „Seid froh dieweil, dass euer Heil ist hie ein Gott und Mensch geboren…“ Vor allem fehlten in dieser Aufführung die Texte mit dem wütenden, kriegerischen Anrennen gegen (vermeintliche) Feinde. 

In der Summe war es ein sehr bewegendes Weihnachtsoratorium, mit einem Orchester, das keine Durststrecke kannte und Solisten, die am Ende nur geringfügig erschöpft schienen von den Bachschen Koloraturen. Die Kantorei aber sang unangefochten standhaft bis zur letzten Note.

Vielleicht gab das Konzert auch den Gedanken mit auf den Weg, wie das stille Fest einer Geburt unter ärmlichsten Bedingungen, nur erleuchtet von einem Stern, durch den Glitzer und lauten Glamour von Konsumtempeln konterkariert werden konnte. Es wäre Zeit, dass wir uns besinnen. Die erfüllende St.-Marien-Aufführung war Anregung.

Barbara Kaiser – 18. Dezember 2023
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Still und voller Glanz

Beeindruckendes Kirchenjahresabschlusskonzert in St. Marien mit Kantorei und Solisten 

Eigentlich gibt es am Ende dieser Novemberkonzerte nicht immer Beifall, denn es soll der Stille, der Besinnung, auch der Trauer Raum gegeben werden. Nach diesen 70 Minuten allerdings nicht zu applaudieren, hätte sich falsch angefühlt; und so gab es sehr lang anhaltenden Beifall. Der war wohl vor allem dankbar. Dafür, dass es Erik Matz mit seiner St.-Marien-Kantorei und den beiden Solisten Timo Rößner (Tenor) und Reinhard Gräler (Orgel) gelungen war, dieser besonderen Zeit im zu Ende gehenden Kirchenjahr Gehör zu verschaffen. Nicht grell und schrill, auch wenn es in manchen Fenstern, vor allem aber in den Geschäften, schon glitzert und leuchtet, sondern still und voller Glanz. Denn Volkstrauertag und Totensonntag stehen ja noch bevor…
 
„Advent ist im Dezember!“ – dieses Motto der Kirche verhallt von Jahr zu Jahr meist ungehört, Erik Matz aber hat es verinnerlicht, wie er in einem Gespräch vorab zugibt. „Für mich persönlich bedeutet es, dass man der Stimmung auch mal nachgibt.“ Also auch Trauer zulässt, Andacht zelebriert, Erwartung aufbaut.
Das Konzert für diese Jahreszeit war trotzdem kein deprimierendes. Schlicht „Alpha & Omega“ benannt, das A und O, der Anfang und das Ende, vereinte es eine Stückeauswahl, meist a cappella, aus Frühbarock, Romantik, Moderne und gar Gospel. Zwischen Melchior Franck (1580 bis 1639), Sergej Rachmaninow (1873 bis 1943) und Kurt Weill (1900 bis 1950) bewegten sich die Noten. Die berühmten Liederschreiber Hugo Wolf (1860 bis 1903) und Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809 bis 1847) fehlten genauso wenig.
Und: Es war keineswegs zu düster. „Getragen“ ist vielleicht der passende Ausdruck für den Kammerton des Abends, zwischen Andante und Largo.
Die Kantorei agierte mit großer Einsatzfreude und Energie. „I am Alpha and Omega“ von John Stainer (1840 bis 1901) war eine entschlossene Angelegenheit, der vierstimmige Gospel „Soon Ah will be done it“ eine rhythmische Vergewisserung. Hier tönte nirgendwo bloßer Schöngesang, sondern erklang musikalische Charakteristik. Sergej Rachmaninows „Bogoroditse“ besaß wunderbare Melodiebögen mit Forte-Ausbrüchen – ein Höhepunkt dieses Konzerts. Außerordentlich beeindruckend immer das „Amen“ am Schluss einiger Stücke, das Überwältigungspotential besaß in seiner Zartheit. 
 
Die eingeladenen Gäste Timo Rößner und  Reinhard Gräler machten den musikalischen Auftritt perfekt. Rößner besitzt eine überzeugende Liederstimme mit großem Tonumfang, er sang von der Empore mühelos Raum füllend. Kongenial Gräler an der Orgel, nie aufdringlich, immer demütig den Noten dienend. Auch in seinem Solo, den „Variations sur un thème de Clément“ von Jehan Alain (1911 bis 1940) blieb er angenehm zurückhaltend.
Nur ein einziges Mal mussten sich Orgel und Chor für ein paar Takte zusammenfinden, dann war diese Paarung ausschließlich Hörvergnügen. Und als Kurt Weills „Kiddush“ (Segensspruch) am Ende fast wie Gershwin klang, war sicherlich jeder der Zuhörer*innen überzeugt, dass Besinnung und Innehalten wunderbares Tun sein können.

Barbara Kaiser – 13. November 2023
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Mit Glanz

St.-Marien-Sommerkonzertreihe mit Besucherrekordbilanz und „emBRASSment“ aus Leipzig beendet
 
Es waren rund 200 Zuhörer gekommen zum neunten, dem letzten St.-Marien-Sommerkonzert; von der Empore ließ sich das ziemlich gut ermitteln. Damit darf man getrost 1300 Besucher insgesamt summieren für diese Reihe, die ein Erfolg genannt werden kann. Ich erinnere mich an viel spärlichere Besucherzahlen – aber diese Zeiten scheinen vorüber. Es gab also einen großen Dank an alle ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer und an Kantor Erik Matz, ehe es losging:
 
Eigentlich kommen ja nur bei Wagner die Bläser in großen Mengen nicht zu kurz, weshalb der gleich mal einen Deckel über seinem Orchester installieren musste, damit die Sänger auch eine Chance zur Wahrnehmung haben. Vielleicht ist die ansonsten eher stiefmütterliche Behandlung ein Grund dafür, dass es in den vergangenen Jahren immer mehr Blechbläser jenseits des Jazz  versuchten und wagten, ihre Instrumente - quer durch alle Musikliteratur - populärer zu machen und sich zu kleinen Ensembles zusammenschlossen. 
 
Diejenigen fünf Musiker, die im letzten St.-Marien-Konzert aufspielten und die es schon seit zwei Jahrzehnten gibt, entwaffnen sowieso jedes Gegenargument! „emBRASSment“ aus Leipzig – das heißt ein Quintett, das die hohe Kunst des Blechs beherrscht, als gäbe es den Schrecken eines jeden Orchesters in Form von quiekenden Hörnern oder hysterischen Trompeten nicht! Bei diesen Herren ist kein Ton eingetrübt, kein Hauch rau. Glanz in treffenden Nuancen und Farben, Eleganz und Lakonik im Ausdruck.
 
Die Stimmungs- und Klangwechsel zwischen den Barocknoten eines Johann Gottfried Reiche, Johann Hermann Schein und Johann Sebastian Bach, Neuer Musik und „Prinzen“-Partituren machten den Abend musikalisch aufregend. Die Akteure bewegten sich souverän in allen Töne: dem schmetternd-fröhlichen Blechlärm in Dur ebenso wie im getragenen Moderato. Obendrein gaben sie das Legato zum Schluchzen schön und boten Vitalität durch Kontur und Gestik, von Ideen überquellende Arrangements.
„Musikstadt Leipzig“ hatten Lukas Stolz, Christian Scholz (Trompeten), Lars Proxa (Posaune), Denny Tillentz (Horn) und Nikolai Kähler (Tuba und Moderation) ihr Programm genannt. Zudem stellten sie ihre Stadt, die nicht nur Musik zu exportieren hat, vor. Zwischen dem ehemals größten Kopfbahnhof, der heute eher ein Einkaufstempel ist, der Neuen Leipziger Seenlandschaft, die sich dem Braunkohleabbau verdankt und der Gründung der SPD, die sich in Friedrich-Ebert- und Ferdinand-Lassalle-Straßen niederschlägt. Na, eine Wilhelm-Liebknecht-Straße wird es auch geben, wenn sie der Bildersturm zu Wendezeiten nicht hinwegfegte. Und sein Sohn Karl Liebknecht wurde im Jahr 1871 in der Thomaskirche getauft, Taufpaten: Karl Marx und Friedrich Engels. Allerdings in Abwesenheit, wie man sicher weiß.
 
Aber nicht nur historisch zeigten sich die Blechbläser mitteilungsbedürftig, sie vermochten auch ihre Noten treffend einzuführen. Die Barocknoten, die Turmsonate Nr. 10, eine Suite und die Kunst der Fuge Nr. 1, überzeugten das Publikum sowieso, denn bei aller polyphonischen Turbulenz, kam das Quintett immer unter einen Hut beim Fine-Ton. 

Von Olav Kröger (*1965) erklang eine Kurzfassung des Wagnerschen „Rings“. Wagner hatte sich ja eine recht aufregende Zeit für seine Geburt in Leipzig erwählt: Das Jahr der Völkerschlacht 1813. Sein Kollege Kröger brach die 14 Stunden Ringerzählung herunter auf vielleicht vier Minuten; nicht ohne den Walkürenritt wohlgemerkt. Der Schlussakkord ist einer in Dur – dabei sind am Ende fast alle tot. 

Rolf von Nordenskjöld schrieb eine „Home-Suite-Home“. Ob das Heim auch „sweet“ ist, wenn man es mit einer Katze teilt, muss jeder selber wissen, aber die „Dancing Cat“  daraus trieb es nicht so toll. Das Musikstück war eine moderate, virtuose Melange im Fünfvierteltakt – vier Pfoten, ein Schwanz.
 
Am Schluss gab es natürlich das Medley mit fünf Titeln der „Prinzen“, dem bekanntesten Markenzeichen der Stadt. Außer Bach natürlich. Und so swingte, tirilierte und schmatzte das Ensemble sich dem Ende entgegen, immer in der Gewissheit, dass hier fünf Musiker zusammen musizieren, die auf einen kollektiven Mehrwert aus sind, niemals auf Solo-Profilierung. Die Gäste aus Sachsen bewegten sich unaufgeregt und souverän in allen Partituren. Dafür gab es am Ende viel Beifall. – Nun ist auch diese Konzertreihe vorüber, der Sommer wahrscheinlich vorbei. Freuen wir uns auf das nächste Jahr.

Barbara Kaiser – 27. August 2023
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Ein Plus an Hörgenuss

Bei „Orgel plus“ musizierten Erik Matz und Fabian Zocher im vorletzten St.-Marien-Sommerkonzert
 
Für die Paarung, wie sie im achten St.-Marien-Sommerkonzert auf dem Programm stand, habe ich gewöhnlich die Rezensionen darüber wie folgt eröffnet: Es kann gar nicht sein, dass die Engel, wie behauptet, Harfenspieler sind. Schon wer sie in Goethes Faust-Prolog donnern hört, kann sich dazu eigentlich nur eine Orgel und eine Bachtrompete vorstellen… Und warum sollte man drum herumreden, dieser Meinung bin ich immer noch. So es diese Wesen, die Botschafter zwischen Gott und Mensch, denn geben sollte.
Unter dem Titel „Orgel plus“ musizierten im vorletzten Sommerkonzert Erik Matz und Fabian Zocher. Keinesfalls darf man diesen Trompeter nur als „Plus“, also Anhängsel oder Aufwertung des Orgelspielers, begreifen. Der im Jahr 1986 in Erfurt Geborene ist ein umtriebiger Musiker (in zahllosen Ensembles präsent und als Solist) und gelernter Orgelbauer. Die Zusammenarbeit mit dem Kantor kam zustande, als er vor einem halben Jahr die große Orgel in St. Marien mit restaurierte. Sein Instrument, die klassische Trompete, hat Zocher in Leipzig studiert, seitdem ist er nahezu ununterbrochen unterwegs.
 
Orgel und Trompete – das ist Programm für sich. Dazu Bach und Zeitgenossen und fertig ist eine musikalische Stunde, die immer Liebhaber findet. Erik Matz stellte noch einen Mendelssohn-Bartholdy dazu, weil dessen Orgelsonaten nun einmal zu seinem Repertoire gehören. Außerdem gab es ein Quäntchen Neue Musik.
 
Fabian Zocher blies die Trompeten, es waren vier an der Zahl, mit (meist) sauberen Ansätzen und sogar im Largo-Legato gediegen und mit inniger Noblesse. Auch die Höhen ließen einen nicht erschrecken, es quäkte nirgendwo. Dem Spiel der beiden Solisten kam nie die Balance zwischen Ausdruck und Genauigkeit und auch nicht, wo angebracht, der schwärmerische Tonfall abhanden. Ohne Effekthascherei, wozu die Partituren auf den Pulten Gelegenheit durchaus gegeben hätten, und ohne Anflug von Anstrengung erklang das Repertoire zwischen Frühbarock und Gegenwart.
 
Den Anfang machte eine Sonata in B-Dur von Tommaso Albinoni, dem Johann Sebastian Bachs „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ folgte. Nebenbei: In Leipzig feiern sie in diesem Jahr schon wieder ihren Thomaskantor, der bekam nämlich vor genau 300 Jahren diese Stelle zugesprochen, war aber nur zweite Wahl. Und so richtig warm geworden sind Bürger und Musiker wohl auch nicht miteinander.
Felix Mendelssohn-Bartholdys Orgelsonate Nr. 2 c-moll op. 65 gelang Erik Matz wunderbar. Wuchtig bis zur Dissonanz, aus der sich eine schöne, klare Fuge erhebt. Derlei  romantische Überwältigung kam im diesjährigen Sommerkonzertprogramm ja ein bisschen kurz, was schade ist.
 
Johann Gottfried Walthers musikalische Variante von „Ein feste Burg ist unser Gott“ dürfte  Luther gefallen haben, weil diese Überzeugung eine Fanfare sein muss. Bei Georg Friedrich Händels „Voluntary in C“ dachte man an seine Feuerwerksmusik und war zufrieden.

Zwiespältiger hinterließ einen „Sonnenhymnus“ von Max Drischner (1891 bis 1971). War das Spätromantik oder Größenwahn? Denn zu erfahren ist: Die „nordischen“ Orgelwerke des Komponisten waren auch zur Ausgestaltung nationalsozialistischer Feiern gedacht, im Jahr 1933 komponierte er euphorische Variationen auf das „Deutschlandlied“. „Sonnenhymnus“ wurde zwar 1924 geschrieben, ist beeindruckend protzig als „Passacaglia in E-Dur“ kaschiert, einen Zusammenhang zu oben Genanntem kann man aber nicht wegdenken.
 
Seinen ganz großen Auftritt bekam der Trompeter mit Domenico Gabrieli und dessen Trumpet Tune (Con mot – Andante – Allegretto – Allegro). Das war der ganze barocke Glanz,  Spiel mit einer unerschöpflichen Kraft und Ausstrahlung. Sein Begleiter an der Orgel erwies sich als einer der rücksichtsvollen und klugen. Tempo, Klarheit und Durchsichtigkeit bestimmten das Musizieren der beiden Instrumentalisten. Mit konsequenter Energie gelang Lyrisches wie Monumentales. Die zahlreichen Zuhörer erklatschten sich eine Zugabe und hatten ihr Kommen nicht zu bereuen.
 
Am kommenden Samstag, 26. August 2023, steht das neunte und letzte Konzert dieses Sommers auf dem Programm. Zu Gast sein wird das Ensemble „Embrassment“ aus Leipzig, gern gesehene Gäste in St. Marien.

Barbara Kaiser – 21. August 2023
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Mit Synkopen und Groove

Im siebten St.-Marien-Sommerkonzert saß Lilo Kunkel aus Würzburg an der Orgel.
Quelle: Barbara Kaiser
Am Ende hielt sich die Organistin an die alte Regel: Beende ein Konzert immer mit etwas Beeindruckendem! Und so endete ihr „Romance in the dark“ benannter Auftritt mit dem gleichnamigen Stück von Big Bill Broonzy (1903 bis 1958), dem schwarzen Musiker aus einer armen Familie mit 17 Kindern, der vor allem im Country-Blues unterwegs war. Da groovte es zum Abschluss munter, da bedienten viele Register die Imagination, was wohl bei dieser „Romanze in der Dunkelheit“ alles passieren könnte…
 
Jazzinspirierte Orgelmusik hatte der Gast aus dem Süden Deutschlands mitgebracht. Vielleicht war sie dabei ein bisschen zu sehr in die Dunkelheit, die Dämmerung abgetaucht, denn die meisten Noten kamen zwar synkopisch-flott daher, aber man hätte in den Arrangements mehr machen können.
Der Schwung des Beginns „The midnight sun will never set“ von Quincy Jones (Die Mitternachtssonne geht nie unter) hielt leider nicht, was er versprach. Dabei war dieser Auftakt vielversprechend: Der Sound und Drive der Hammond-Orgel, zünftige Partymusik. Tanzbar oder zumindest geeignet, die Finger mitschnipsen zu lassen. 
 
Danach wurde es eintöniger: „Round midnight“, „Midnight train“, „Midnight mood“, „Dream dancing“ „Crépuscule with Nellie“ (Dämmerung mit Nellie). Wirklich ganz schön düster.
Aufhorchen ließ dann wieder Cole Porters „In the still of the night“ – das war nämlich ein Tango. Sofort war der Beifall danach eifriger. Ehe Lilo Kunkel ihre Zuhörer wieder in die Finsternis stieß. Bis hin zum besagten Abschluss, der mit den 45 Minuten versöhnen konnte, wenn man dazu bereit war.
 
Wie gesagt, das Ganze hätte die Welt des strömenden Klangs inspirierter vorstellen können. Vor allem aber abwechslungsreicher in den Registern. Mancher Titel war auf dezente Weise aufregend und es fehlte nicht an Entschiedenheit, die Orgel zu spielen. Was fehlte, war eine gewisse Originalität. Ein Witz, eine Verbeugung vor einem Großen, eine Intonation, die ein „Aha“ zur Folge hatte. Das Programm war sehr melancholisch und in seiner Zusammenstellung ein wenig fantasielos. Schade. Denn einige wenige Noten erfrischten wie der Sommerregen vor der Tür.
 
Am Samstag, 19. August 2023, treffen sich zum 8. Sommerkonzert Erik Matz an der Orgel und Fabian Zocher mit der Trompete. Das Programm heißt „Orgel plus“ – man wird es sehen, wie viel Mehrwert der Zuhörer schöpfen kann.

Barbara Kaiser – 13. August 2023
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„Meine Orgel – mein Orchester“

Im sechsten St.-Marien-Sommerkonzert saß Annika Köllner auf der Empore
 
Das Zitat der Überschrift stammt vom französischen Komponisten Caesar Franck (19. Jahrhundert), der davon überzeugt war, dass die Orgel mit ihren Möglichkeiten der Klangerzeugung ein ganzes Orchester abdecke und ersetzen könne. Und schon der gute alte Bach spielte auf „seinem“ Instrument Werke, die nicht für diese „Königin“ geschrieben worden waren. Warum dann also nicht auch einmal Film- und Computerspielmusiken, muss sich Annika Köllner, Kantorin an der Klosterkirche Ebstorf, gefragt haben. Unter dem Titel „Game & Watch“ war sie im sechsten St.-Marien-Sommerkonzert zu Gast. Dieser Titel klingt  nur auf Englisch griffig. Übersetzt heißt er ziemlich sperrig „Spiel und zuschauen“ (besser: beobachten); also die Kopplung eines Substantives mit einem Verb (wenn man es nicht substantiviert). Aber egal.

Ich gebe es zu: Kaum ein musikalisches Motiv vom Programmzettel wäre mir ad hoc in den Kopf gekommen. Film- und Videospielmusik für die Orgel zu transponieren, ist aber auch weit hergeholt. Obgleich dieses Instrument zwischen Piccoloflöte, Trompete und Streicher alles vereinen kann. – Wenn man also keine Erwartungen an das Programm hatte, konnten die nicht enttäuscht werden. Und um es vorweg zu nehmen: Für das Repertoire hätte es der Vielfalt der Orgel nicht bedurft, es wäre genauso auf dem Akkordeon oder dem Klavier passend aufgehoben gewesen.
Quelle: Barbara Kaiser
Gut besucht war das Konzert ohne Frage, Annika Köllner hatte eine große Ebstorfer Publikumsgemeinde mitgezogen. Die hörte dann 60 Minuten lang eine recht unspektakuläre und wenig aufregende Vorstellung. Die von der Organistin selber arrangierten Partituren blieben sehr brav. 
So flog zu Beginn die Eule Hedwig von Harry Potter in St. Marien ihre Runde, ehe zwei „Tetris“-Themen aufhorchen ließen. Ich wusste gar nicht, dass die russischer Folklore entlehnt sind, bei der man eigentlich immer gute Laune kriegt. Meist aber verharrte das Spiel düster, Markenzeichen war ein lange gehaltener Pedal-Grundton.
 
Nun verschwinden Filmmusikkomponisten oft im Abspann eines Streifens. Vielleicht ist Hans Zimmer da eine Ausnahme. Der wurde mehrmals für den Oscar, den Golden Globe Award und den Grammy Award nominiert. Seine Musik zu „Fluch der Karibik“ ist bekannter. Die erklang am Ende des Konzerts. Hier wurde es endlich einmal ein bisschen polyphoner und bombastischer. 
Davor hatte das Medley zu „The Legend of Zelda“ (Videospiel) aufmerken lassen, weil es verschiedene Takte und Tempi und sogar einen langsamen Walzer (wow!) vorstellte. Die Musik zu „Der Pate“, die man auch erkennt, wenn sie erklingt, hätte in der Interpretation durchaus ein wenig zügiger daherkommen können. Da war sehr viel Largo, schmachtend fast.
Zu Andrew Lloyd Webbers „Phantom der Oper“ und dessen Hauptmotiv muss man nicht viel sagen, das hat Ohrwurmqualität. Annika Köllners Auffassung davon besaß ausschließlich mehr Forte in der Wiederholung statt größerer Variabilität und nötiger Dämonie. Schade, denn dieser wühlenden Düsternis entzieht sich eigentlich kaum einer.
 
Fazit: Ich hatte zum Glück keine Erwartungen. Das jedoch eigentlich nur, weil ich mit dieser Art von Musik weniger anfangen kann. Trotzdem hätten mich ein rasantes und weniger einförmiges Spiel durchaus überzeugen können. Diese Konzertstunde besaß leider wenig Nachhaltigkeitspotential.

Am Samstag, 12. August 2023, ist Dr. Lilo Kunkel aus Würzburg die Organistin. Sie bringt „Jazzinspirierte Orgelmusik“ mit. St. Marien, 16:45 Uhr.

Barbara Kaiser – 6. August 2023
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Drei Bäche, vier Flüsse

Erik Matz saß für das fünfte St.-Marien-Sommerkonzert an der Orgel
 
Das Thema dieses Konzerts, „Von Bächen und Flüssen“, war keineswegs rein hydrologisch zu verstehen, also keine ausschließlich feuchte Angelegenheit, obwohl es tropfte, perlte, strudelte, strömte und rauschte. Denn wenn man, wie Erik Matz, drei Mal den Namen „Bach“ auf dem Zettel hat, dann handelt es sich natürlich um die berühmte Thüringer Familie. Von dessen Vater kein Geringerer als Beethoven später den überwältigenden (und strapazierten) Spruch tätigte: „Nicht Bach, Meer sollte er heißen“. 
Quelle: Barbara Kaiser
Kantor Erik Matz saß beim 5. Sommerkonzert selbst an der St.-Marien-Orgel. Der Applaus des zahlreich erschienenen Publikums bewegte ihn am Ende noch zu einer Zugabe.
Es ging also mit Bach los, das schon fünfte St.-Marien-Sommerkonzert. Kantor Erik Matz saß an der großen Orgel für Carl Philipp Emanuel Bach und dessen Fantasie und Fuge c-moll, WQ 119 Nr. 7 H 103. Dabei hielt der Instrumentalist die Stimmen schön mithörbar. Gut, es ist ja „nur“ der Sohn, beim Vater ist das oft genug schwieriger, weil unendlich komplizierter. Aber ganz gleich welchen Vornamens, der Name Bach ist immer etwas zum Entspannen.

Vater Johann Sebastian begab sich danach an die Wasserflüsse Babylon (BWV 653). „Da saßen wir mit Schmerzen“ heißt es im Choral aus der Reformationszeit, die Musik selber war eher Meditation. Babylon, das wir zuerst mit dem verunglückten Turmbau verbinden, der uns die Sprachverwirrung einbrachte. Aber die Stadt lag am Euphrat, und das Zweistromland zwischen ihm und dem Tigris ist eine kulturelle Wiege der Menschheit.
 
Erik Matz führte die  Noten besinnlich aus, schlicht und ruhig. Er blieb auch im zügig-aufgeräumten Choralvorspiel „Christ, unser Herr, zum Jordan kam“ (BWV 684) übersichtlich und umsichtig in seiner Intonation. Glanzvoller wurde es mit Louis Vièrne und dessen „Pièces de Fantaisie Nr. 3 op. 54: Sur le rhin (Auf dem Rhein). Mit den Anfangsakkorden entstand vorm geistigen Auge der mächtige Strom, der majestätisch fließt und auch bedrohlich werden kann. Diese Noten sind  hochromantischer Bombast. Trotzdem keine Lorelei, nirgends. Mit einem gewaltigen Fortissimo wehrt sich der Fluss am Ende gegen seine Mündung in die Nordsee. Nützt aber nichts.
 
Danach wurde es herzhaft-fröhlich und licht. Es erklang in schöner Beweglichkeit „An der Weser“. Gedichtet 1835 von Franz von Dingelstedt (1814 bis 1881), wurde es von Gustav Pressel vertont. Das Lied ist eins dieser melancholischen Naturlyriken, die man jedoch durchaus auch als Trauer über die gescheiterten Reformbewegungen in den deutschen Landen lesen könnte. Als die Urburschenschaft, die sich mit ihrem Wartburgfest 1817 als fortschrittliche Avantgarde einer Nationalbewegung sah, verboten wurde (1819), entstanden ähnliche Reime über Verluste. Auf jeden Fall  jedoch besitzt das Weserlied eine eingängige Melodie, der Text weint verlorenen Träumen (nur von Liebe?) nach.
 
Als unbestritten witzigster wie einfallsreicher Glanzpunkt des abwechslungsreichen Programms kann Matz’ „Improvisation mit dem Titel: Paul Gerhardt macht auf der Moldau eine Bootstour“ gelten. Da plätschert die Moldau, wie sich das Bedřich Smetana erdachte. Matz verwendet von den neun Themen zwei, das Anfangsmotiv und das der Hochzeit. Die Orgel gurgelt also und breitet das große Wasser vor uns aus. Daraus erhebt sich „Geh aus, mein Herz“. Und diese beiden musikalischen Supermotive umschlingen sich, mäandern und werfen sich die Fortsetzung zu, dass es eine Freude ist. Dieser Erik Matz war mein absoluter Favorit!
 
Zum Abschluss der 60 Konzertminuten huldigte der Organist mit Johann Strauß der „Schönen, blauen Donau“, einem der bekanntesten Walzer des Wieners, wechselt also in den unwiderstehlichen Dreivierteltakt. Introduktion, ein Hauch Leierkasten und dann volle Dröhnung Seligkeit. Vielleicht war es ein bisschen viel des Ritardando, weniger wäre mehr gewesen, dafür vielleicht mehr Rausch! Wenn Matz sich verhaspelte, überspielte er es routiniert, und das Publikum fand sowieso: War doch mal was anderes! Das war es ohne Zweifel.

Am Samstag, 5. August 2023, ist Annika Köllner zu Gast. Sie bringt dann Videospiel- und Filmmusik auf die Manuale und Pedale. Darf man gespannt sein. 

Barbara Kaiser – 30. Juli 2023
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Sound of Silence

Studierende der Musikhochschule Hannover zu Gast im vierten St.-Marien-Sommerkonzert
 
Man muss jungen Menschen eine Bühne geben für ihr künstlerisches Ausleben. In Uelzen und namentlich in St. Marien klappt das über sehr viele Jahre ausgezeichnet. Zahlreiche Berufsanfänger*innen standen dort für einen ersten Auftritt, mit mehr oder weniger Lampenfieber machten sie erste Schritte ihres Lebens für und mit der Musik. Und so ist es nahezu selbstverständlich, dass Kantor Erik Matz für sein viertes Sommerkonzert einem Vokalensemble der Musikhochschule Hannover die Bühne der wunderbaren Kirche zur Verfügung stellte.
Acht junge Sänger*innen: Antonia Strieder, Charlotte Pohl (Sopran), Magdalena Ehlers, Stina Raupers (Alt), Theo Rhode, Enno Schreiber (Tenor), Julius Tietje und Simon Wittkowsky (Bass) verschrieben sich dem A-capella-Gesang und  taten sich für dieses Projekt, den Auftritt in St. Marien, zusammen. Diese Zusammensetzung als Doppelquartett macht Vielfältigkeit und Flexibilität im Repertoire möglich. Die Hannoveraner Gäste sangen Partituren zwischen Barock (Palestrina und Schütz), Romantik (Mendelssohn und Schumann) und Moderne (Reger und Rheinberger). Die Besucherzahlen des Konzertes bewegten sich auf den diesjährigen Rekord zu, was verständlich ist bei so zahlreich mitgebrachten Freunden und Verwandten.
 
Es gibt wirklich sehr wenig zu monieren an dieser Stunde Chorgesang. Mit Überzeugung, kraftvoll wie sensibel eröffnete das Oktett das Programm mit „Jauchzet dem Herrn, alle Welt“. Die leisen Töne überzeugten absolut, die Abschlüsse kamen immer perfekt.
Zwei schöne Tenöre besaßen eine Leichtigkeit, die Freude machte, die Bässe grundierten solide, dass es im eigenen Zwerchfell mitvibrierte. Die zwei Altstimmen ermöglichten Kontemplation mit einer Schlichtheit, die anrührte. Die Soprane sind, wie die Trompeten im Orchester, manchmal der Schwachpunkt. Im Chor aus der Landeshauptstadt störte ein Sopran hin und wieder durch eine gewisse Schrille, was auch der Grund dafür ist, dass das Timbre des Ensembles insgesamt noch nicht ausgereift ist. Was nicht verwundern mag, wenn man erfährt, dass dieser Auftritt eine Premiere war.
 
Das Repertoire kam sehr getragen daher. Man darf da von jungen Leuten auch einmal etwas Fröhlicheres erwarten, zumindest in der Zugabe! Aber für den, der die Augen schließen und sich den Stimmen zu Füßen werfen wollte, war es angemessen. Erfreulich textverständlich die Balladen „Ungewitter“ und „Der Wassermann“ von Robert Schumann. Ein bisschen mehr Gestaltung hätte den Vortrag noch nachdrücklicher gelingen lassen. 
Schade, dass das Vokalensemble „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“ nicht nach Paul Gerhardt interpretierte, sondern die Max-Bruch-Variante wählte. Ein bisschen mehr Lebensfreude, ihr jungen Menschen! Aber als Summe war dieser Auftritt ein gelungener. Natürlich gab es jubelnden Applaus vom Publikum.
 
Am Samstag, 29. Juli 2023, sitzt Kantor Erik Matz höchstselbst an der Orgel und lässt das Instrument „Von Flüssen und Bächen“ erzählen. 16.45 Uhr wie immer.

Barbara Kaiser – 23. Juli 2023
(siehe auch: Die neue Barftgaans |
Feuilleton im Netz)

Wenn Boogie auf Fuge trifft

Antje Ueberschär und Andy Mokrus im dritten St.-Marien-Sommerkonzert
 
Buchstäblich mit dem letzten Ton war die Zeit abgelaufen und das Samstagabendläuten donnerte los. Aber Andy Mokrus hätte sich wohl nicht aus dem Takt bringen lassen. Aus einem irischen Takt, der nach des Komponisten Willen über den Atlantik reiste und zum Country wurde. Das hieß für den Pianisten Mokrus eine rasante Chromatik im Presto, so ein richtiges Renommierstück zum Abschluss. Der Hannoveraner Musiker war im dritten St.-Marien-Sommerkonzert zu Gast, an seiner Seite blies Antje Ueberschär die Querflöte.
Es war ein Konzert, das keine Grenzen kannte, aber Brücken schlug. In andere Kulturen und andere Zeiten; zwischen osteuropäischer Folklore, Bachscher Fuge, Kurt Weill und Boogie.

Zu seinen Kompositionen erzählte Andy Mokrus stets eine Geschichte, weil man „mit den Bildern hinter der Musik verreisen kann, denn Klavierstück 1 bis 10 sagte Ihnen nichts.“  So schlossen die Zuhörer beispielsweise Bekanntschaft  mit dem kleinen Mäuserich, der Ballett tanzte. Und ja, natürlich denkt man dabei auch an Prokofjew. Oder wenigstens Tschaikowski. Und lauert eigentlich die Katze auch irgendwo?
 
Den Anfang des Konzerts machte ein „Prélude“, das glückliche Kindertage imaginieren sollte. Einfache Harmonien und eine kleine Melodie entführten den Zuhörer in eine Zeit, in der die Welt noch in Ordnung war … Die „Groteske“ wurde von Kurt Weill inspiriert, den Mokrus den Meister der Enttäuschung nennt, weil die Musik nie so weiter geht, wie man meint, dass sie muss. Ein bisschen Erzählendes also, etwas Ruppiges, Lyrisches auch, und ein paar Dissonanzen natürlich. Antje Ueberschär darf mitspielen – das Heft in der Hand behält aber das Klavier. Das wird sich erst für das „Poem Nr. 1“ am Schluss ändern, hier darf die Flöte ein zauberhaftes kleines Larghetto vorstellen. So richtig was zum Träumen und Besinnen.
 
Davor gibt es aber noch die Reise nach Bulgarien. Gut, die Musik dazu war eher ein Sirtaki, aber Griechenland liegt ja gleich um die Ecke. Presto voller Taktwechsel, Accelerando und Crescendo. – Dann stellte sich Andy Mokrus dem großen Johann Sebastian. „Das wollte ich immer machen“, sagte er. An Selbstbewusstsein fehlte es dem Jungen also nie. Das Ergebnis: eine „Vierstimmige Boogie-Fuge“. Der Mann am Klavier stellt die vier Themen vor, dann geht’s los. Okay, ein kristallklarer Bach ist das am Ende nicht, das Stück funktioniert aber als wilder Boogie. Und außerdem darf man bei dieser Art des Musizierens auch schludern, und trifft man nicht jeden Ton, so ist das kein Drama. Mokrus bemüht sich trotzdem um eine Struktur und Linienführung. Und Spaß machen solche Adaptionen allemal. So auch die „Meditation“ nach Olivier Messiaen, dem Tonsetzer aus Frankreich.

Am meisten Spaß machte wohl das Stück, in dem zwei Zirkusclowns – nach dem Willen des Komponisten – mit Sahnetorten werfen. Hier war die Inspiration wieder Kurt Weill, das „Lied von der Unzulänglichkeit“ aus der „Dreigroschenoper“ meinte man zu erkennen.

Es war eine andere musikalische Erfahrung, die die Zuhörer des dritten St.-Marien-Sommerkonzerts da machten. Vielleicht hatten einige zu Beginn ein wenig gefremdelt. Am Ende aber waren wohl die meisten überzeugt davon, dass barocke Mehrstimmigkeit und glitzernder Impressionismus zusammenpassen, dass es keineswegs die derzeit vielgeschmähte „Kulturaneignung“ bedeutet, wenn sich Noten für eine kleine brasilianische Gitarre oder die für einen bulgarischen Vogelgesang mit aktuellen Frequenzen küssen. Keine Schubladen! Mut zum Experiment! In den munteren 70 Minuten dominierte zwar der Pianist, die Flötistin aber bekam auch Gelegenheit, sich tapfer zu wehren.

Am Samstag, 22. Juli 2023, erklingt A-capella-Chormusik mit dem Ensemble „Sounds of vocals“, das sind Studierende der Musikhochschule Hannover. 16.45 Uhr, St.-Marien.

(Barbara Kaiser – 16. Juli 2023 – Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)

Amadeus, Amadeus!

Christoph Schoener saß im zweiten St.-Marien-Sommerkonzert an der Orgel
 
Einen riesengroßen Pluspunkt hatte dieses Sommerkonzert schon mal vorab: Betrat man die St.-Marien-Kirche umfing einen angenehme Kühle. Sicherlich nicht nur deshalb war das Mittelschiff wieder sehr gut besetzt beim zweiten St.-Marien-Sommerkonzert, für das Christoph Schoener aus Hamburg an der Orgel saß. Sein Programm  verschrieb er in diesem Jahr Mozart. Und da er seit dem Jahr 2000 inzwischen mindestens schon sechs Mal – so oft habe ich eine Konzertrezension in meinem Archiv – zu Gast war, bekam er einen Vorab-Applaus vom Publikum, das sehr wohl wusste, dass eine Orgelstunde bevorstand, die man mit Schoener nie zu bereuen gehabt hat.
 
Als Entree stand die Ouvertüre C-Dur, KV 399, auf dem Programm.  Geprägt durch scharf punktierte Rhythmen ist das Stück für die Orgel geschaffen. Es war ein schöner, wuchtiger Anfang mit einer Fuge, die geprägt ist von Repetitionen und Figurationen und sich an Werke von etwa Buxtehude (um nicht immer Bach zu sagen) anlehnt. Der Wechsel zum Zierlichen gelang mit dem bunten Vogel Papageno, der als der Vogelfänger herbeiflatterte. Leider nur für eine Strophe.
Einen ersten Höhepunkt bildeten die Zwölf Variationen über „Ah, vous dirai-je, Maman“, KV 265. Im Deutschen ist die Melodie bekannt als „Morgen kommt der Weihnachtsmann“, die man herrlich durch alle Register und Geschwindigkeiten jagen kann. Schoener hielt dann auch übermütige Sechzehntel genauso bereit wie Akkorde oder Brummendes im Pedal. Chromatische Läufe oder Moll, auf Zehenspitzen und flüsternd mit einer Forte-Zusammenfassung am Ende.
 
Damit hatte sich der Gast endgültig Gehör verschafft, Eindruck gemacht und das Publikum auf seiner Seite. Aus einem kleinen Thema eine große Musik zu machen – dass Mozart das konnte, weiß man. Es folgte ein Adagio C-Dur für Glasharmonika, KV 356. Ein Adagio ist ja immer was zum Niederknien in seiner Zartheit, in Moll noch mehr. Im „Stück für ein Orgelwerk in einer Uhr“, KV 594, stand es danach in Moll, in f-moll, und erklang ungewöhnlich robust und irrlichternd. Das Allegro dann wieder heiter, nach F-Dur gewendet, entschlossen und brachial-fröhlich mit einem Opernarienschluss. Das zweite Adagio der Komposition fing am Schluss alles wieder ein.
 
Das Spiel Schoeners blieb beredt und voller Schwung, steigerte sich im „Andante für eine Walze in eine kleine Orgel“: Zierlich, Leierkasten-like, kess fast und am Ende verschmitzt mit einem schrägen Ton. Seelenvoll, voller Temperament, als Arbeiter der Nuance überzeugte der Gast aus Hamburg seine Zuhörer, ehe er zum großen Abschluss kam: Fantasie f-moll, KV 608, „Ein Orgel Stück für eine Uhr“.
Das sei „großer, wunderbarer Mozart“, hatte Christoph Schoener diesen Abschluss angekündigt. Er war eigentlich nicht nur das. Die Fantasie verbeugte sich vor Bach und nahm auch gleich ein Stückchen Romantik vorweg. Dabei ist diese Fantasie eine Trauermusik für einen gestorbenen österreichischen Feldmarschall – aber wen interessierte das heute noch.

Der Organist überzeugte das Publikum mit seinem Spiel aus filigraner Transparenz, kraftvoller Konzentration und Kontrastfähigkeit.
Es war insgesamt ein wohlgefälliges Konzert, was das Repertoire anging, so recht Sommerabend-kompatibel, ohne beängstigende Dramatik. Wie angenehm.

Am kommenden Samstag, 15. Juli 2023, sitzt Andy Mokrus am Flügel, begleitet von Antje Ueberschär (Flöte). Der Titel ihres Programm „Bridges to he world“.

(Barbara Kaiser – 10. Juli 2023 – Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)

Fließende Melodien

Hugo-Distler-Ensemble eröffnet St.-Marien-Sommerkonzerte unter dem Titel „Panta rhei“
 
Meist hat es der Erste, der anfangen muss, schwer. Nicht so die Akteure für das erste St.-Marien-Sommerkonzert, das Hugo-Distler-Ensemble aus Lüneburg. Die rund zwei Dutzend Sängerinnen und Sänger bestritten den Auftakt für 2023. Es ist wunderbar zu sehen, wie die Reihen in der Kirche schon an diesem ersten Tag der Konzertreihe gefüllt waren. Bis zum 26. August wird es jetzt an jedem Samstag heißen: Termin 16:45 Uhr, St. Marien.
 
Und so hatten der Leiter des Ensembles, Kantor Erik Matz, und sein Chor quasi ein Heimspiel. Sie stellten ihr Konzert unter das Motto „Panta rhei“ – Alles fließt – womit man nichts falsch machen kann. Denn neben der Lebenszeit fließen das Wasser und die Melodien und die Gefühle, die besungen wurden. Alles hat eben seine Zeit. Um daran zu erinnern, erklang von Orlando di Lasso das „Omnia tempus habent“, die Motette für zwei achtstimmige Chöre, die die tröstliche Schlusszeile beinhaltet: „Tempus belli et tempus pacis“ – Der Krieg hat seine Zeit, aber der Frieden genauso. Erst recht, möchte man hoffen. Angesichts dieser Gegenwart ist das wichtig ...
Der Kammerchor Hugo-Distler-Ensemble Lüneburg unter der Leitung von Erik Matz eröffnete den Reigen der St.-Marien-Sommerkonzerte 2023 am 1. Juli mit einem A-cappella-Chorkonzert.
Das Hugo-Distler-Ensemble suchte sich für sein Programm Noten durch die Jahrhunderte. Zwischen dem erwähnten Orlando di Lasso – 16. Jahrhundert – Johann Sebastian Bach und dem 1970 geborenen Eric Whitacre. Dessen „Alleluia“ hatte einen Hauch von gregorianischem Gesang, wurde außerordentlich ausdrucksstark dargeboten, mit einem schwebend-sphärischen Sopran und samtweichem Fine-Ton.

Fröhlich, überzeugt und überzeugend dann Bachs Motette „Lobet den Herrn, alle Heiden“. Die Verbeugung vor eben diesem Giganten von Knut Nysted (1915 bis 2014), „Immortal Bach“ (Unsterblicher Bach) war eine Entdeckung. Das kleine Ensemble spaltete sich in sechs (!) vierstimmige Chöre und man meinte, die Töne kämen von überall her. Sogar die Orgel glaubte man zu hören, dabei saß überhaupt keiner auf der Empore! Ein unglaublicher Eindruck.
 
Mit John Dowland, Hugo Alfvén und Hugo Distler wurde es weltlicher, denn man sang von den Freuden und Leiden der Liebe. „Come again“ heißt es bei Dowland, „to see, to hear, to touch, to kiss“. Der Mann lebte in der sinnenfreudigen Shakespearezeit, da erklärt sich diese Aufforderung. Aus Eduard Mörikes Chorliederbuch dann „Nimmersatte Liebe“ und „Zum Tanze da geht ein Mädel“.
 
Der Chor fand von Beginn an zu seiner beeindruckenden Gesamtleistung. Jeder bewegte sich in der Vielstimmigkeit der Kringel, Koloraturen und dem Fugato eines Bach sicher, da klappte nichts nach am Ende. Mit großer Einsatzfreude und Energie verliehen alle ihrer Stimme angemessene Trauer oder Ausgelassenheit, je nach Partitur. Das Ensemble kannte keine Schwäche, stimmlich so wenig wie in Konzentration des oft komplizierten Musizierens.

Geboten wurde der eindrucksvolle musikalische Cluster „Love’s tempest“ eines Edward Elgar (1857 bis 1934) und die stille, gedankenvolle Meditation von Sven David Sandström (1942 bis 2019) samt seiner Aufforderung „To see a world“. Die Welt zu sehen, die sich in einem Tropfen oder einem Sandkorn komplex spiegelt.
 
Ehe man noch einen Gedanken verschwenden mochte, ob ein Sommerkonzert nicht vielleicht ein bisschen heller und aufgekratzter enden darf, hob Erik Matz den Taktstock zu „Horch, was kommt von draußen rein“.  Die meisten im Publikum konnten die besungene Unbeständigkeit der Männer sicherlich mit Humor nehmen. Dieser letzte Vortrag eines souverän aufgestellten Chores, der flexibel und bestechend deutlich agierte, schickte der das Publikum in den Samstagabend.

In einer Woche, am Samstag, 08. Juli 2023, ist der Organist Christoph Schoener aus Hamburg, ein guter alter Bekannter, zu Gast. Er musiziert „Mozart pur“.

(Barbara Kaiser – 2. Juli 2023 – Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)

Die Macht des Imperativs

St.-Marien-Kantorei holt großes Vor-Corona-Konzert triumphal nach
 
„Alles, was Odem hat, lobe den Herrn!“ Ein Imperativ kann ja bezwingen. Und wird der noch so kategorisch und musikalisch brillant formuliert wie im Konzert in St. Marien, erliegt man ihm willig. Auf dem Programm des großen Konzerts der Kantorei mit Orchester und Solisten  stand Felix Mendelssohn-Bartholdys „Lobgesang“, die Sinfonie Nr. 2 B-Dur op. 52 aus dem Jahr 1840. Als Entree erklang dazu „Te Deum“ des 20-jährigen Georges Bizet, das der im Jahr 1858 einem Preisausschreiben für die beste geistliche Musik einreichte. Gewonnen hat er den „Prix de Rome“ nicht. Vielleicht wurde das Werk auch deshalb, allerdings völlig zu Unrecht, vergessen, erst 1971 wiederentdeckt.
Von Anfang an machten Chor, Orchester und Solisten klar, dass sich hier 90 Konzertminuten höchsten Anspruchs vorbereiten. Der Bizet schmetternd, den Torero-Einzugsmarsch ahnend. Ganz anders als ein „Te Deum“ bei Verdi oder, wer es moderner mag, bei Arvo Pärt. Eine erfreuliche Wiederentdeckung. Der Sopran von Cathrin Lange bereits hier stimmstark und innig gleichermaßen. Der Tenor Manuel Günther überzeugte durch stimmliche Flexibilität. Dazu gesellte sich eine bestechende Deutlichkeit beider Solisten. Auch Antonia Strieder, das Eigengewächs der Kantorei, deren Entwicklung man verfolgen konnte über die Jahre, die im „Lobgesang“ als zweiter Sopran fungierte, war ihrem Part gewachsen.
 
Mendelssohns Partitur steht in der Oratorientradition des 19. Jahrhunderts. Das reichlich einstündige Werk war ein Auftrag der Stadt Leipzig (damals hatten Städte noch Geld für künstlerische Aufträge) zur 400-Jahr-Feier der Erfindung des Buchdrucks. Den Komponisten traf diese Aufgabe in einer Schaffenskrise: Seine 2. und 3. Sinfonie gingen nicht voran und blieben unbefriedigend, der „Lobgesang“ entstand deshalb als 4. Sinfonie, wurde am Ende aber als 2. eingruppiert. Mendelssohn findet hierfür eine glaubhafte Form des Zusammenwirkens von Poesie (Bibelzitate und ein Kirchenlied) und Musik und beendet damit auch seine künstlerische Stagnation. Zudem konnte er den Berlinern beweisen, dass die ihn völlig grundlos ein paar Jahre vorher als Nachfolger Carl Friedrich Zelters an der Singakademie der Stadt abgelehnt hatten. Als Gewandhauschef (ab 1835) in Leipzig kam er nun zu Ehren.
 
Die Sinfoniekantate vermeidet den hymnischen Tonfall von Beethovens IX., das Lob Gottes bei Mendelssohn ist schlicht, überzeugend, vom Dunkel ins Licht findend, am Ende dennoch triumphal. Die ersten 25 Minuten sind eine instrumentale Sinfonia. Bereits hier etabliert der Komponist im 1. Satz das Leitmotiv „Alles, was Odem hat…“ als beeindruckendes Posaunenfanal und als Maestoso. Er dekliniert das Ganze durch – hierin ist er vielleicht wie Beethoven, dem auch wenige Töne genügten für eine Welt. Der 2. Satz, ein Allegretto ist einem Musettewalzer nicht unähnlich, heiter vor allem. Das Adagio religioso des 3. Satzes ist an Sanftheit kaum zu überbieten (Bravo Holzbläser!). Hier die Spannung zu halten ist schwierig.
 
Aber: Erik Matz am Pult hält unaufgeregt wie immer alles zusammen. Er hatte sich aber auch fähige und spielfreudige Musiker an die Seite geholt! Das Orchester „Ad hoc“ ist, wie der Name sagt, ein Zusammenschluss je nach Bedarf. Die professionellen MusikerInnen aus Hamburg und dem norddeutschen Raum kennen sich, weil man sich in der Branche immer wieder über den Weg läuft. Was sie aus dieser Bekanntschaft (und den unterschiedlichen Zusammensetzungen) machen, ist hocherfreulich. 
 
Zwei Drittel des „Lobgesangs“ gehören nach der instrumentalen Einleitung dann den Solisten und dem Chor. Schmelzend und innig das „Er tröstet die Betrübten mit seinem Wort“ des Tenors. Mühelos in der Höhe das „Die Nacht ist vergangen“ des Soprans. Wunderbar aufblühend der Chor mit „Sagt es, die ihr erlöset seid“. Eine überzeugende Zusammenarbeit im Choral „Nun danket alle Gott“, bei dem das Orchester eine flink laufende Begleitung spielt, während das Ensemble den Choralduktus durchhält. 
 
Es war ein wohlgefälliges Musikerlebnis, bei dem sich, trotz des Moll-Zwischenrufs „Stricke des Todes hatten uns umfangen“, trübe Gedanken verboten. Eine glanzvolle Aufführung. Ein Lobgesang – dem man nur zum Lobe schreiben kann. Mitnichten Lobhudelei. 
Auch wenn am Schluss ein übereifriger Applaudierer nicht abwarten konnte, bis die letzten Tonschwingungen davongeschwebt waren, der versunkene Musikliebhaber auftauchte aus dem Universum Klang. Das ist mehr als ärgerlich, kommt aber eben immer wieder vor.
 
Großen Dank also einem stilsicheren wie beredten „Ad-hoc“-Orchester, einer seelenöffnenden Kantorei, die offen, nie betulich oder gar bigott ihre Noten darbrachte als heilsame Zumutung, Solisten, die im Piano überzeugten wie auch kraftvoll-kernig in schmetternder Höhe. Und natürlich Kantor Erik Matz, der seinem Publikum eine beeindruckende Musikstunde schenkte.

(Barbara Kaiser – 8. Mai 2023 – Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)

Monumental und – demütig

Eine musikalische Bitte um Frieden im St.-Marien-Weihnachtskonzert

Normalerweise heißt es am dritten Advent in St. Marien „Jauchzet, frohlocket“. In diesem Jahr war da zwar vorm Beginn der Konzerte (Samstag und Sonntag) ein aufgeregt-freudiges Trompeten und Fiedeln – den Auftakt zu diesem Weihnachtskonzert machte aber „Dona Nobis Pacem“. Gib uns Frieden. Es gibt kein treffenderes Flehen in diesen Tagen, weshalb Kantor Erik Matz der Aufführung als die übergreifende Überschrift auch „Eine musikalische Bitte um Frieden“ beigab.

Auf dem Programm standen diese programmatische Zeile, vertont von Ralph Vaughan Williams, und vom selben Komponisten die „Fantasia on Christmas Carols“. Dazu gesellte  sich „Magnificat“ von John Rutter. Man hatte also den großen Johann Sebastian einmal in der Schublade gelassen und kam britisch daher; in der Ausstattung exorbitant, mit einem Anliegen, das aufs Beste eine Einmischung in Gesellschaftspolitik ist. Dieses Konzert war eine klare Ansage, aber trotzdem weihnachtlich geprägt. Es war ein großes Vorhaben, das man am Ende als gelungen bezeichnen kann.
Erik Matz stand am Pult und hatte die Lüneburger Symphoniker in großer  Besetzung zwischen Pauken, Blech und Harfe zu beherrschen. Zudem die wieder sehr umfangreiche St.-Marien-Kantorei und die beiden wunderbaren wie überzeugenden Solisten Julia Henning (Sopran) und Konstantin Heintel (Bassbariton). Letzter war eingesprungen für den erkrankten Kollegen Stefan Adam.
Ralph Vaugham Williams (1872 bis 1958) war Schüler von Maurice Ravel und schrieb das „Dona Nobis Pacem“ in den Jahren 1936/37. Der Erste Weltkrieg ist gerade 18 Jahre her, der später Zweite genannte zog schon dunkel am Horizont auf: Die Legion Condor der deutschen Faschisten probte bereits, legte die baskische Stadt Guernica in Schutt und Asche; sie verhalfen zudem dem putschenden General Franco gegen die spanische Republik zum Siege. Das muss man aber nicht mitdenken – ein Blick in die Abendnachrichten reichte auch aus.
Das sechssätzige Werk ist eine Melange aus eindringlicher Bitte, Kriegsgeschrei, Trauer und einer nimmer vergehenden Hoffnung … Die Aufführung war ein Musizieren (gerade bei diesem Thema) aus Verantwortung, niemals als Selbstdarstellung. Der Chor sang mit Intonationsreichtum, überwältigender Klangfülle und Homogenität. Mit der Sopranistin Julia Henning hatte Matz einen Glücksgriff getan, ihre Stimme schwebte förmlich über allem. Aber auch ihr Baritonkollege Heintel agierte mit Energie und Einsatzfreude. Stimmlich flexibel, bestechend deutlich beide.
Als der Chor im Schlusssatz das „Fürchte dich nicht, du geliebter Mann! Friede sei mit dir. Sei stark und hab Vertrauen!“ vielstimmig ausbreitete, klang die lichte Zukunft, der Frieden, nahezu triumphal. Mit Schellen und Pauken und Trompeten, die Kantorei in Forte-Höchstform!  Aufrüttelnd, markerschütternd. Bravo!
 
Danach wurde es mit „Fantasia on Christmas Carols“ fröhlicher. Das 1912 aufgeführte Werk erzählt die Geschichte der Menschheit zwischen dem Paradies des Anfangs und dem Leid der Erdentage nach dem Sündenfall. Bis sie die frohe Botschaft von der Geburt Christi ereilt. Was für eine schöne Company zwischen Chor und Solisten, mal fugato, mal maestoso: „Gott segne unser Generation, die sowohl nah als auch fern leben. Ehre sei Gott und Friede den Menschen, jetzt und immer. Amen.“ 
Hier war die Musik Kraftquell und Reinigungsbad der Seele (wie es Bach auch verstand), war sie eine Mischung aus Melancholie, heiterer Gelassenheit, Weisheit. Erik Matz hielt alles gut beisammen, auch wenn das Orchester manchmal den Ausbruch suchte und sehr prominent daher kam. Es waren aber auch Klangballungen, mit denen die Vokalisten zu interagieren hatten, deshalb verbietet sich jede Beckmesserei. 
 
Den Schlusspunkt setzte „Magnificat“ von John Rutter (* 1945). Magnificat - einer von drei Gesängen im Neuen Testament, erzählend die Freude und Erwartung Marias. Das ganze besitzt einen festlichen Geist, schließlich steht Großes bevor. Das Stück ist eine Balance zwischen Extrovertiertheit und intimer Sinnlichkeit, die Orchestrierung ist überaus farbenreich. Inspiriert haben den Komponisten zusätzlich die fröhlichen lateinamerikanischen Marienfeste.
Alle Sänger hatten hier nach dem aufregenden Beginn die Gelegenheit für die leisen Töne, des innigen Ausdrucks, der lyrischen Emphase. Das instrumentale Finale war wieder eins mit Pauken und wunderbarem Blech – im Wortsinne ein „Gloria!“.
 
Was für eine Aufführung! Großer Jubel am Ende. Die drei höchst anspruchsvollen Werke waren mit äußerster Konzentration und Ausstrahlung realisiert worden. Man stand davor und konnte doch nur knien – vor dieser musikalischen Erschütterung. Vor dieser Bitte um Frieden.
Erik Matz  hatte sich auch künstlerisch nicht verhoben mit dem Repertoire, das die dringendste Botschaft der Zeit transportierte mit unbekannten, ungewöhnlichen Noten und das, wie es die Losung des Advents 2022 sagt, ein „großes Licht“ war für alle Zuhörer („Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht.“ Jesaja 9,1). Man ging befriedet nach Hause, wissend, dass die Welt nicht so ist und Dank der Musik nur für einen Augenblick so schien.

(Barbara Kaiser – 12. Dezember 2022 – Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)

Der Berg ruft

Zum Abschluss der St.-Marien-Sommerkonzerte erklangen Alphorn und Orgel

So ein imposantes Alphorn ist dreizwanzig lang und aus Fichtenholz, erzählt Thomas Crome, der Gast beim neunten und letzten St.-Marien-Sommerkonzert. Und natürlich kommt es aus der Schweiz, „weil die die besten machen“. Das klingt logisch, haben sie doch dort auch die höchsten Berge – und Funklöcher. Letztere spielten zwar noch keine Rolle, als man im 16. Jahrhundert das Alphorn erfand, aber der Drang und die Notwendigkeit nach Informationsübermittlung waren schon damals groß. Inzwischen gibt es eine Unzahl von Alphornrufen und auch in den Konzertsaal hielt das Instrument Einzug.
Quelle: Barbara Kaiser
Thomas Crome blies dieses Unikum von Instrument, dazu das Konzerthorn. Sein Duo-Partner Frank Oidtmann saß an der Orgel. Als Begleiter und Solist. Die Noten, die beide Gäste mitgebracht hatten, waren bis auf Leopold Mozart alle 20. Jahrhundert. Was hörgewohnheitsbedürftig war. Aber der Reihe nach:
Die diesjährigen St.-Marien-Konzerte beschlossen mit der neunten Musikstunde auch den Sommer; die Besucherzahlen allerdings sind bei aller Traurigkeit darüber hocherfreulich. Ganz oft war das Mittelschiff sehr gut besetzt, sodass man von 900 Zuhörern ausgehen kann. Kantor Erik Matz war ebenfalls sehr zufrieden und erfreut, er studiert mit seiner Kantorei schon wieder das Programm für den dritten Advent, der in diesem Jahr kein Bachsches Weihnachtsoratorium auf dem Programm hat.
Quelle: Barbara Kaiser
Thomas Crome (Horn und Alphorn), Frank Oidtmann (Orgel)
Crome und Oidtmann begannen mit drei Bagatellen für Horn und Orgel des Ungarn Etienne Isoz (1905-1986). Man weiß ja als Zuhörer nie so recht bei Neuer Musik, ob der Solist patzt oder es so sein muss. Beim Horn ist das wahrscheinlich noch einmal extra schwierig. Auf jeden Fall schienen sich die zwei Musiker aufeinander einstellen zu müssen, denn manchmal stritten sie auch um die Lautstärkehoheit. So beim Andante religioso für Horn und Orgel von Artur Kapp (1878-1952)

Die drei Alphornrufe von Alfred Leonz Gassmann (1876-1962), einem Schweizer natürlich, verbreiteten dann Staunen. Man fragte sich, wie man solch hohe, sanfte Töne aus einer Fichtenholzröhre zu holen in der Lage sein kann. Eine Röhre ohne Klappen, Ventile oder Flötenlöcher. Thomas Crome konnte. Die Töne schwebten durch die Kirche und verbreiteten Ruhe und Frieden.
Danach Leopold Mozart (1719-1787), der Vater des Genies Wolfgang Amadeus. Seine Sinfonia Pastorella schrieb er natürlich vor Beethovens „Pastorale“, man darf aber an sie denken. Denn schon bei Mozart gibt es dieses Erwachen heiterer Empfindungen, die Vogelrufe (der Kuckuck ist eben zu verführerisch für Komponisten) und ganz offenbar den Auftritt der Jagdgesellschaft. Nur das Gewitter nicht. Die beiden Musiker aus Süddeutschland machten daraus ein musikalisches Erlebnis, einen kleinen Spaß auch, eine zwischenzeitliche Entspannung für die Ohren.

Ehe am Ende Helmut Michael Brands (*1959) Stück „… so werden wir sein wie die Träumenden“ aus dem Jahr 1999 erklang. Nach Psalm 126 heißt der Text: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, / so werden wir sein wie die Träumenden. / Dann wird unser Mund voll Lachens / und unsre Zunge voll Rühmens sein. / Da wird man sagen unter den Völkern: / Der Herr hat Großes an ihnen getan!“ Die Musik dazu sind sphärische Cluster mit Marsch-Intermezzi, die aber versöhnlich enden.
Quelle: Barbara Kaiser
Zwischen den Horn-Orgel-Stücken verteilte Frank Oidtmann als Solist die vier Sätze der Orgelsonate Nr. 2, op. 16 von Camillo Schumann (1872-1946). Schumann wurde in Bad Gottleuba, das ist im Osterzgebirge, geboren, studierte in Leipzig und ist wahrscheinlich einer der letzten deutschen Romantiker. Oidtmann ging mit der wuchtigen wie liebenswerten Masse der Musik entschlossen um, nicht immer blieb sein Spiel gläsern. Aber die Hommage an Bach, die Fuge über B-A-C-H als Allegro war ein schönes Stück.

Resümee: Es gab in diesem Konzert außer dem Mozart keinen Ohr-Catcher. Trotzdem war es eine musikalische Erfahrung, die man machen kann, weil Konzerte schließlich auch dafür da sind. Es gab freundlichen Beifall am Ende.

(Barbara Kaiser – 28. August 2022 – Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)

Majestätisches

Im achten St.-Marien-Sommerkonzert saß Frank Dittmer an der Orgel

Eigentlich könne man jedes Orgelkonzert mit „königliche Musik“ überschreiben, rechtfertigte der Gast aus Greifswald in seinen Einführungsworten das Thema seiner Konzertstunde. Schließlich nenne man die Orgel auch „Königin der Instrumente“! Der Professor aus der Hansestadt an der Ostsee nannte seinen Vortrag also „Königliche Klänge für Orgel“; auch, weil es prachtvolle Musik sei und/oder für den Hof komponiert. So einfach ist das also.
Quelle: Barbara Kaiser
Professor Frank Dittmer an der St.-Marien-Orgel
Dittmer wurde zwar im Emslands geboren und wuchs in Bad Zwischenahn auf, er studierte in  Oldenburg und Köln, ist aber ab 1997 zunächst Kantor in Stralsund, später Domorganist am Greifswalder Dom. Im vergangenen Jahr erhielt er die Berufung zum Professor für Kirchenmusik an der dortigen Universität. Er sei schon einmal in Uelzen gewesen, erinnerte er sich. Das lag aber noch vor der Zeit der Orgelrestaurierung. Nun zeigte er sich erfreut, welche Möglichkeiten das Instrument  böte.

Diese war er auszuschöpfen entschlossen, denn sein Repertoire begann mit Dietrich Buxtehude und Michael Praetorius bewegte sich über Johann Sebastian Bach (bis hierher: Barock) und Charles-Marie Widor, mit dem er in der französischen Romantik ankam –  zum Belgier Joseph Jongen (1873 bis 1953) und Thomas Roß-Köln (*1969). Breiter kann man eine Stunde musikalisch nicht fächern.

Buxtehudes Präludium, Fuge und Charonne (BuxWV 137) kam für meine Begriffe ein wenig breiig daher. Das blieb aber zum Glück nicht das Hauptmerkmal des Vortrags von Frank Dittmer. Schon bei Praetorius` Choralbearbeitung „Nun lobe, mein Seel`, den Herrn“ war sein Spiel schlicht und ruhig, voller Gewissheit und Überzeugung in der mehrmals sich wiederholenden, dröhnenden Abschlussreprise. Hier erklang`s nahezu enthusiastisch.

Bachs Concerto a-moll (BWV 593) nach Antonio Vivaldi: Concerto a-moll op.3, Nr. 8 war eine wunderbare Melange aus deutscher Barock-Schwere und italienischem Flair. Heiter, flott, voller Sonnenschein das Entree, ein wenig spannungslos das Adagio, wieder munter und witzig das folgende Allegro.

Danach wurde es synkopisch: Aus Thomas Roß-Kölns „Jazz-Stücke für Orgel“ erklang das „Let`s get rhythm“. Diese Noten lagen dem Interpreten ganz offenbar. Sein Spiel changierte zwischen schwelgendem Leierkasten und rasendem Staccato, mit viel Schwung und Verve.

Das Intermezzo aus Charles-Marie Widors Orgelsinfonie op. 13, Nr. 1 ist nicht minder beeindruckend als die Toccata der Nr. 5 aus der letzten Woche von Erik Matz. Frank Dittmer nahm sie schön fingerflink und mit Ausdruck.

Zum Abschluss dieser 60 Minuten „königlicher Klänge“ ein wirkliches Meisterstück, eine beeindruckende Angelegenheit: Die Sonata Eroica op. 94 von Joseph Jongen. Wir denken bei „Eroica“ an Beethoven und Napoleon; und dass der Komponist dem Feldherrn am Ende das Heroische absprach, indem er das Titelblatt seiner Sinfonie mit der Widmung zerriss. Weil ein Politiker eben wieder einmal enttäuscht hatte und mit der eigenen Krönung zum Kaiser die „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ zur Farce hatte verkommen lassen.

Der belgische Komponist dieser Sonata Eroica war Jahrgang  1873. Im I. Weltkrieg zählte er 40 Jahre, mitten im II. war er 70. Ehe er mit 80 Jahren starb. Das vorgetragene Werk entstand 1930, nach der großen Weltwirtschaftskrise also, als die Nazis langsam schon Machtansprüche anmeldeten.

Man muss aber diese Partitur nicht politisch deuten wollen, obgleich das erste musikalische Thema laut und beängstigend erklingt. Das zweite weiß zu besänftigen. Das Stück besteht aus infernalischen Klängen, sphärischen Zwischenrufen und manifesten Akkorden. Eine Fuge – sehr Bach-like – rast auf den Schluss zu. Hier hält Dittmer das  Fugenmotiv noch präsent  im Presto und allen Ballungen den Endes. Sie war eine grandiose Dame, diese Eroica. Aufwühlend und erfrischend anders, abseits der Hörgewohnheiten.

Das Publikum danke es dem Gast aus Mecklenburg-Vorpommern mit langem Beifall. Das neunte und schon letzte St.-Marien-Sommerkonzert gibt es am Samstag, 27. August 2022. Thomas Crome und Frank Oidtmann musizieren mit Alphorn/Horn und an der Orgel. 16.45 Uhr, St. Marien Uelzen.

(Barbara Kaiser – 21. August 2022 – Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)

Auf Französisch

Erik Matz spielte im 7. St.-Marien-Sommerkonzert Couperin und Widor
Quelle: Barbara Kaiser
Toccata aus der 5. Sinfonie für Orgel von Charles-Marie Widor
Wegen solcher Stücke freut man sich auf Konzerte! Und Erik Matz ließ auch keine Wünsche offen mit der Interpretation der Toccata aus der 5. Sinfonie für Orgel von Charles-Marie Widor (1844 bis 1937). Für das 7. St.-Marien-Sommerkonzert hatte sich der Kantor selbst ans Instrument gesetzt und überraschte mit Barocknoten und großer französischer Romantik.

Die musikalische Stunde begann mit einer katholischen Messe von François Couperin, der von 1631 bis 1700 lebte, dessen Daten aber mit einem Fragezeichen zu versehen sind. Auf jeden Fall kann er Johann Sebastian Bach nicht mehr zur Kenntnis genommen haben, der erst 15 war, als Couperin starb. Erik Matz versuchte, in seinen Einleitungsworten, die Zuhörer in Sachen Musik ins 17. Jahrhundert zu schicken: Keine Rundum-Beschallung allüberall – Klänge gab es, lebte man nicht bei Hofe, was für die meisten ja zutraf, nur im Gottesdienst. Oder mal `ne Schalmei mit Laute auf einer Hochzeit. Welchen Eindruck muss die Orgel auf die einfachen Leuten gemacht haben? Die Wucht und die Verführung der Töne, wenn sie die Messe feierten. Wir sollten das viel öfter mitdenken.

„Ich mag diese kleinen Stücke“, hatte Erik Matz im Gespräch gesagt. Diese Couplets in festgelegter Registrierung. Nach Texten, die sich an der Abfolge der Messe entlanghangeln: Zwischen „Kyrie“, „Gloria“, „Sanctus“ und „Agnus die“. „Kyrie“ – Herr, erbarme dich – war bei Matz eine klare Angelegenheit. Die Partitur spiegelt nirgendwo Depression, die Hoffnung bleibt der Oberton. Eine kleine Fuge, Dialoge der verschiedenen „Instrumente“, je nach Register. Das „Gloria“ – Ehrerbietung, Ruhm – besitzt einen kraftvolleren Einstieg, hat es doch auch den hoffnungsvollsten Text der ganzen Liturgie: „et in Terra Pax“. Friede auf Erden. Die Stücke sind einfalls- wie abwechslungsreich, mal wird die menschliche Stimme imaginiert, mal die Trompete. Gegen Ende geht es richtig zur Sache: Mit schönen Läufen, die dennoch nicht übermütig daherkommen, und mehr Forte. Erik Matz lässt trotzdem nichts überkochen, immer eingedenk des Textes, der das „Dona Nobis Pacem“ (schenke uns Frieden) wie das „Deo Gratias“ (Dank dem Herrn) vorschreibt. Ein paar schöne musikalische Weckrufe und entschlossene, bekräftigende Akkorde beenden die Messe. Mit Sicherheit hat sie den selbstgewissen Glauben der damaligen Zeitgenossen untermauert.
Quelle: Barbara Kaiser
Erik Matz an der Orgel
Ganz anders Charles-Marie Widor: Es sind inzwischen 200 Jahre vergangen. Die Französische Revolution hat das Land durchgelüftet und auch die Orgel in die Konzertsäle geholt. Die Musik für sie ist nun genauso weltlich geprägt und von der Oper beeinflusst. Man denke an die Superstars der damaligen Zeit: den Franzosen Giacomo Meyerbeer und seinen italienischen Kollegen Guiseppe Verdi. Und Puccini gab`s ja auch noch.
Erik Matz stellte diese Epoche mit zwei Sätzen aus der 6. Sinfonie für Orgel op. 42,6 vor. Ein Intermezzo in dramatischem Presto, einem Vorspiel für eine Opernarie durchaus vergleichbar. Das Ganze ist natürlich entschieden melodiöser und ein hochromantischer Aufmarsch. Matz lässt keine Verwaschungen zu und sortiert diese Breitwandmusik übersichtlich und klar. Das folgende Cantabile ist ein Atemholen vor der bereits erwähnten Toccata.

Wenn der Solist seine Zuhörer mit den zahlreichen Stücken der barocken Messe wirklich verloren haben sollte, jetzt waren sie mit Sicherheit wieder da und ganz Ohr. Die Toccata – vom italienischen toccare: schlagen, berühren, betasten – ist eine der ältesten Bezeichnungen für Instrumentalstücke vor allem bei Tasteninstrumente. Meist in freier musikalischer Struktur, im Charakter einer Improvisation, die zwischen schnellen Passagen in kurzen Notenwerten und vollstimmigen Akkorden wechselt (Wikipedia).

Widor brauchte eigentlich nur ein Hauptmotiv und machte daraus ein aufregendes, erregendes und außerordentlich effektvolles Stück Musik, indem er es durch die Register jagte. Das ist die Krone eines jeden Orgelkonzertes – auch für das von Erik Matz, der es wunderbar gläsern zu Gehör brachte und dennoch seine Wucht nicht unterschlug. Dafür bekam er am Ende langen Beifall von den zahlreichen Besuchern.

Am kommenden Samstag, 20. August 2022, sitzt Frank Dittmer, Matz’ Kollege aus Greifswald, auf der Empore und wird, so das Versprechen, „Königliche Klänge für Orgel“ spielen. St. Marien, 16.45 Uhr.

(Barbara Kaiser – 14. August 2022 – Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)

Lauter tiefe Töne

Lukas Strieder spielte im 6. St.-Marien-Sommerkonzert die Tuba

Lukas Strieder habe, so Kantor Erik Matz in seinen Begrüßungsworten, seine ersten musikalischen Schritte in St. Marien gemacht. Genau wie Merle Hillmer, die vor Wochenfrist an der Orgel saß. Ein bisschen Stolz auf solche erfolgreichen jungen Leute darf da schon sein. Im 6. St.-Marien-Sommerkonzert war Lukas Strieder als Solist zu Gast: An der Tuba, die er inzwischen sehr erfolgreich zu spielen weiß.
Quelle: Barbara Kaiser
Lukas Strieder, Tuba
27 Jahre alt ist der Musiker aus Wieren inzwischen und befindet sich derzeit im Masterstudiengang am Mozarteum Salzburg. Die Tuba ist ja nicht das gängigste Soloinstrument, erwählt es jemand, muss es Liebe sein. Lukas Strieder hat zwar nicht die ganz große Ausgabe dieses Blechblasinstruments mitgebracht zum Konzert, aber er kommt mit Trillern und Läufen, er darf schwärmen und manchmal poltern, laut und leise. Als Begleiter setzte sich Erik Matz an die Orgel und war aufmerksamer Begleiter, denn bei den Stücken handelte es sich immer um Bearbeitungen, meist von Partituren für Violoncello und Orgel. 
Quelle: Barbara Kaiser
Erik Matz an der Orgel
Los ging’s also! Das Mittelschiff war wieder sehr gut besetzt. Besucherandrang quasi; Erik Matz freute sich darüber, denn, so die Erinnerung, vor mehr als 20 Jahren, als die Reihe der Sommerkonzerte startete, verlor sich manchmal nur ein Dutzend Zuhörer in den Reihen.
Ein paar Anlaufschwierigkeiten hatten sowohl der Organist wie auch der Tubist. Aber im Verlauf des Konzerts wurde es besser. Da kam die Tuba tänzerisch. Gemächlich, aber fröhlich (In: Delsbo Brudmarsch, Anonymus) oder brummte zärtlich in „Méditation de Thais“ von Jules Massenet, dem französischen Opernkomponist (1842 bis 1912). War für ein Largo! Sie konnten Bachs „Air“ ebenbürtig genannt werden; genauso hingebungsvoll jedenfalls erklangen sie auch.

Lukas Strieder spielt weiche Ansätze, die in den allermeisten Fällen sehr sauber und makellos sind. Er beherrscht das Legato fließend (beim Blech besonders schwierig) und die Töne schmeicheln sich in des Zuhörers Ohr und Zwerchfell, wo sie mitschwingen und alle Aggression oder Aufregung vergessen lassen. Die Macht der tiefen Töne!
In den Improvisationen op. 55 über das geistliche Volkslied „Schönster Herr Jesu“ von Karl Höller (1907 bis 1987) rankten sich die fünf „Sätze“ an den Spielvorschriften entlang. Mal „Sehr lebhaft, schattenhaft“, „Gesangvoll fließend“ oder „Lebhaft und markiert“. Mal gibt die Tuba die Melodie vor, mal die Orgel. Den auch indifferenten Tonclustern gaben Strieder und Matz Struktur, was nicht immer einfach ist.

Das „Vocalise“ von Sergej Rachmaninow dagegen war einfach nur schön. Diese „Singübung nur mit Vokalen“ war eine klare Angelegenheit. Insgesamt hätte vielleicht im Repertoire ein bisschen mehr Allegro sein können, denn mit der Programmauswahl verschenkte der Solist ein bisschen die Effekte, die jeder Auftritt auch braucht. Vielleicht auch deshalb gab es am Ende drei Auszüge aus Georg Friedrich Händels Feuerwerksmusik; die Ouvertüre, die Bourrée und La Réjouissance (Jubel). Natürlich klingt das anders als mit den schmetternden Bachtrompeten, ein bisschen schwerfälliger zudem. Es kann sein, dass Lukas Strieder einen nicht so guten Tag erwischt hatte, weshalb er nicht ins nötige Tempo kam. Ich selber habe ihn schon viel besser in Form erlebt, dass es zum Staunen war. Trotzdem war es ein erfrischendes Konzert mit einem Soloinstrument, das man eigentlich nur lieben kann. Weil es ist wie Baloo, der Bär. Oder so.

Am kommenden Samstag, 13. August 2022, sitzt Erik Matz an der Orgel und er kommt Französisch. Mit Orgelwerken von Francois Couperin und Charles Marie Widor. Sie wissen schon – das ist der mit der wunderbaren, atemberaubenden Toccata aus seiner 5. Orgelsinfonie! 16.45 Uhr wie immer in St. Marien.

(Barbara Kaiser – 7. August 2022 – Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)

Heimspiel an der Orgel

Werke von Bach bis Buxtehude: Merle Hillmer spielt Konzert in der St.-Marien-Kirche

Uelzen. Sie ist immer wieder eine Pracht in Aussehen und Klang: die Orgel in St. Marien. Am Sonnabend zog Merle Hillmer beim fünften Sommerkonzert in der St.- Marien-Kirche viele Register. Und die erst 24-jährige Kirchenmusikerin, die aus Uelzen stammt und in Leipzig studiert, hatte ihr kurzweiliges Programm unter das Motto „Von Lübeck bis Saragossa“ gestellt. So viel vorweg: Das zahlreich erschienene Publikum drehte sich am Ende zur Orgelempore und klatschte anhaltend für das vielseitige, bewegende Konzert.
Quelle: Christian Holzgreve
Merle Hillmer ist mit ihren 24 Jahren bereits Preisträgerin des Cambridge Orgelwettbewerbs.
Mit dem Praeludium in e-Moll BuxWV 142 von Dietrich Buxtehude klassisch gestartet, wurde es schon beim zweiten Stück bunt und heiter. Denn Merle Hillmer, die Preisträgerin des Cambridge Orgelwettbewerbs und des Edinburgh Orgelwettbewerbs ist, spielte das „Capriccio sopra il cucu“ von Johann Caspar von Kerrl. Ein feines, scherzhaftes Orgelwerk über einen Vogel – den Kuckuck. Der rief anhaltend durch St. Marien, bevor Merle Hillmer Lebensfreude von Johann Sebastian Bach in Präludium und Fuge (G-Dur BMV 541) transportierte und ein herrliches, gehauchtes und sanftes Werk von Robert Schumann in das Kirchenschiff entließ. Aus den „Studien für den Pedalflügel in kanonischer Form“ spielte sie die Nr. 2 op. 56.

Deutlich schwerblütiger und machtvoller dann die Sonate e-Moll, op.19, von August Gottfried Ritter, bevor Hillmer mit ihrem Publikum und dem Komponisten Sebastián Aguilera de Heredia nach Spanien, genauer nach Saragossa, reiste und mit dem Werk „Obra de 8. Tono alto: Ensalada“ ein Stilgemisch anbot.

Zum guten Schluss gab es die Sonate Nr. 3 in A-Dur, op. 65 von Felix Mendelssohn Bartholdy. Das Werk ließ die Orgel in St. Marien schwingen, fordernd für den Organisten wie Buxtehude und Bach. Merle Hillmer meisterte ihr Sommerkonzert mit Bravour, ist auch sängerisch in zahlreichen Ensembles tätig und wird von September an den deutsch-französischen Chorbeau Leipzig leiten.
Quelle: Christian Holzgreve
Langer Applaus in St. Marien für eine ausgesprochen vielseitige und einnehmende Musikstunde.
 Am kommenden Sonnabend, 6. August, um 16.45 Uhr geht es dann mit dem nächsten Sommerkonzert weiter. Unter dem Titel „...tief, tiefer, Tuba“ konzertieren dann Lukas Strieder (Tuba) und Kantor Erik Matz (Orgel) in der St.-Marien-Kirche in Uelzen .

(Christian Holzgreve, 01.08.2022 – Allgemeine Zeitung Uelzen)

Sternstunde der Orgel

Im 5. St.-Marien-Sommerkonzert saß Merle Hillmer auf der Empore

Ziemlich volles Haus zum 5. St.-Marien-Sommerkonzert; das Mittelschiff sehr gut besetzt. Und: Endlich ein Orgelkonzert! Man vermisste es ja schon. An der Königin der Instrumente saß Merle Hillmer. Sie ist in Walsrode geboren, in Uelzen groß geworden und hat trotz ihrer gerade mal 24 Jahre schon eine Menge geleistet und auf dem Zettel; ihr Masterstudium Kirchenmusik an der Felix Mendelssohn-Bartholdy Musikhochschule in Leipzig wird sie in Kürze abschließen, sie war erfolgreich bei Wettbewerben vertreten und betreut mehrere Vokalensemble.
Quelle: Barbara Kaiser
Merle Hillmer an der St.-Marien-Orgel
Was Merle Hillmer an der großen Orgel bot, darf man durchaus schon mit ein paar Superlativen bedenken. Sternstunde also in St. Marien. Die Stärke ihres Spiels ist die Transparenz, und dass sie oft überraschende Akzente zu setzen weiß. Zudem schreitet sie immer zügig voran (das eigentlich schon immer, seit ich sie vor ca. sechs Jahren das erste Mal hörte), ohne dass das auf Kosten der Genauigkeit und Durchhörbarkeit ginge.
 
Das gewählte Repertoire für diesen Auftritt trug den eher geografischen Titel „Von Lübeck bis Saragossa“. Aber natürlich weiß man, dass man es in Lübeck mit Dietrich Buxtehude zu tun bekommt. Von ihm dann auch der Auftakt: Praeludium in e-moll (BuxWV 142). 
Nach wuchtigen Entreeakkorden folgt die zierliche Ausführung, rasch und klar dargeboten. Das war eine sehr schwungvolle Angelegenheit, gar nicht barock-brachial. Und in Hillmers Händen schon gar kein Klangbrei.
 
Im Anschluss von Johann Caspar von Kerrl eine Huldigung für den Kuckuck. Ein musikalischer Scherz für die kleinsten Orgelpfeifen – auf den faulsten Vogel der Welt.
Johann Sebastian Bach komplettierte den Reigen der Zeitgenossen mit Präludium und Fuge G-Dur (BWV 541). Dieses oft gespielte Werk passt mit seiner Tonart in ein heiteres Sommerkonzert.
Danach ein Robert Schumann, wie man ihn eher nicht kennt: Aus „Studien für den Pedalflügel in kanonischer Form“ op. 56 die Nr. 2, die die Spielvorschrift „mit innigem Ausdruck“ trägt. Leicht swingend erklang dieses kleine Stück, ohne dass Merle Hillmer den „innigen Ausdruck“ ins Sentimentale abgleiten ließ. Ein heiterer Schumann – wer hätte es gedacht.
 
August Gottfried Ritter (1811 bis 1885) war die musikalische Entdeckung dieser Konzertstunde. Oder wer kannte den in Erfurt Geborenen und in Magdeburg Gestorbenen vorher? Seine Sonate e-moll op. 19 war die volle romantische Dröhnung. Chromatische Läufe, entschlossene Akkorde. Sehr hörenswert, weil sehr farbig.
Mit Sebastián Aguilera de Heredia kehrte die Interpretin wieder zum Barock zurück, den Frühbarock, kam aber Spanisch (Saragossa!). Dass den Zuhörern nichts spanisch vorkam, verdankte sich auch hier dem feinen Spiel, das „Ensalada“, den „Salat“, aus verschiedenen Elementen vorstellte. Eine muntere Mischung, vermutlich aus den üblichen Tanzsuiten der Zeit, zwischen Allemande und Gigue.
 
Am Ende Felix Mendelssohn-Bartholdys Sonate Nr. 3 A-Dur op. 65. Das war Höchstleistung zwischen Hochzeitsmarsch und „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“. Die Befürchtung, die Spielerin könnte sich hoffnungslos verirren in den Noten, erwies sich als unbegründet. Sie verweigerte sich jeglicher Überhitzung und brachte alles souverän und sehr rhythmisiert zu einem guten Ende.
 
Diese Schlussmusik, eine faszinierend virtuose Rennstrecke, bei der die Solistin jedoch die schroffen Kontraste mied und die Themen zum Singen brachte bewies ein weiteres Mal, dass Merle Hillmer die Noten souverän beherrschte und ein beachtliches Gestaltungsvermögen der Partituren besitzt.
Quelle: Barbara Kaiser
Schlussapplaus für die Solistin des Abends, Merle Hillmer
Am kommenden Samstag, 06. August 2022, ist Lukas Strieder zu Gast. „Tief, tiefer, Tuba“ lautete der Titel der Paarung Tuba und Orgel. An der sitzt dann Kantor Erik Matz. 16.45 Uhr, St. Marien.

(Barbara Kaiser – 31. Juli 2022 – Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)

„Windklangwellen“

Viertes St.-Marien-Sommerkonzert mit Saxophon und Orgel
 
Der Titel dieses St.-Marien-Sommerkonzerts erkläre sich ganz leicht, moderiert Andreas Gärtner diese Musikstunde an: Weder die Orgel noch das Saxophon kämen ohne Wind aus. In einem Fall der Atem des Spielers, im anderen Fall der (glücklicherweise inzwischen) elektrische Blasebalg. 
Saxophon und Orgel sind dennoch eine ungleiche Paarung. Was eine Orgel kann, weiß jeder. Sie stellt zwischen zartem Glockenspiel und Donars Donner alles. Ein Saxophon ist jedoch genauso wenig zu verachten; besitzt es doch die Fähigkeit zu schluchzen, zu spotten, zu schmachten. Was aber leisten Orgel und Saxophon im Duett?  Dass die zusammengehen können, erlebten die zahlreich erschienenen Zuhörer in Uelzens Hauptkirche im vvierten Sommerkonzert.
Quelle: Barbara Kaiser
Cornelia Schünemann und Andreas Gärtner
Wer bei der Instrumenten-Paarung einen Mix von Sakralem und Meditation erwartet hatte, lag nicht völlig daneben. Dass es ganz anders auch geht, hatten vor circa zehn Jahren Frank Lunte und Henning Münther einmal vorgeführt. Die Anlage des Programms der Gäste aus Hamburg jetzt war eine andere. Schünemann und Gärtner sind das erste Mal in Uelzen; Kantor Erik Matz nannte die Begegnung deshalb auch „Blind Date“. Man weiß nie, was man kriegt …
 
Das Zusammenspiel des Organisten und der Saxophonistin passierte auf den Punkt. Mit sicheren und seidenweichen Ansätzen bläst Cornelia Schünemann ihr Instrument, die Ansätze sind ohne Fehl, frisch, transparent und elegant. Die Orgel spielt sich bei Andreas Gärtner nie als kapriziöse Königin auf. 
Das Programm vereinte Barocknoten, Zeitgenössisches und Eigenkompositionen. Da war gleich zu Beginn ein Rondeau von Jean-Josephe Mouret – das hatte einen Hauch von Marseillaise! Dabei konnte der Komponist noch nichts wissen vom Sturm auf die Bastille.  Das Largo religioso von Francesco Durante erklang schwebend, wie ein Gebet. Beide Tonsetzer waren nahezu aufs Jahr genau Bachzeitgenossen, wobei sich Durante zum Lebensziel gemacht hatte, das Werk Palestrinas zu erhalten und zu pflegen.
Quelle: Barbara Kaiser
Wohl, weil es in die Zeit passt, spielte das Saxophon danach eine ukrainische Melodie von Myroslav Skoryk (1938 bis 2020). Voller Wehmut, aber eine harmonische Angelegenheit. Ganz anders das Lied von Volodymyr Ivansyuk (1949 bis 1979) aus dem Jahr 1968. Sieht man davon ab, dass damals die Sowjetunion noch bestand und Kiew die Hauptstadt der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik war, ist dieses Schlagerlied, interpretiert von der Sängerin Soviya Rotaru und nicht nur von ihr, eine erfolgreiche Nummer: Hell, optimistisch, synkopisch, eingängig.
 
Aufhorchen ließ ebenfalls das Ave Maria von Camille Saint-Saëns. Die Eigenkompositionen und die Improvisation auf der Orgel durch Andreas Gärtner waren schwerer zu durchschauen, fehlte ihnen doch ein musikalisches Thema, an dem sich der Zuhörer hätte entlang hangeln können. - Der letzten Nummer, „Sunrise, sunset“ aus dem Musical „Anatevka“ von Jerry Bock, lieh Cornelia Schünemann ihre Vokalstimme. Die war ein schöner, heller, überzeugender Sopran. Dass sie daneben auch das Saxophon blies, war atemtechnische Leistung!
Quelle: Barbara Kaiser
So blieben die 60 Minuten mit den Hamburger Gästen  eher stille Konzertstunde. In einer Woche ist die Organistin Merle Hillmer zu Gast und spielt Orgelmusik aus fünf Jahrhundert. Das wird mit Sicherheit bombastischer, farbenreicher und quirliger. Samstag, 30. Juli 2022,  16.45 Uhr, St. Marien.

(Barbara Kaiser – 24. Juli 2022 – Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)

Kontraste

2. St.-Marien-Sommerkonzert mit Neuer Musik und bewährtem Barock 
 
Man muss sich Johann Sebastian Bach wahrscheinlich als glücklichen Menschen vorstellen. Als einen lebensweisen obendrein. Denn hätte er sonst solche Verse vertont wie: „Ruhig und in sich zufrieden/Ist der größte Schatz der Welt.“ Oder diese Mahnung an die Generation Spaßgesellschaft: „Ihr suchet, was ihr nicht könnt kriegen,/ Und kriegt ihr’s, kann’s euch nicht vergnügen;/Vergnügt es, wird es euch betrügen/ Und muss zuletzt wie Staub zerfliegen.“ Das ist doch auch nach fast 300 Jahren noch weise, oder?
 
Die weltliche Kantate „Ich bin vergnügt in mir" (BWV 204) für Sopran, Barockorchester und Cembalo nach dem Text von Christian Friedrich Hunold (1680 bis 1721),  der sich als Dichter Menantes nannte und unter diesem Pseudonym der berühmteste deutsche „galante“ Autor war, erklang beim 2. St.-Marien-Sommerkonzert. Bach komponierte sie 1726 in Leipzig für einen unbekannten Anlass – vielleicht hat er ja den Reichen seiner Stadt den Spiegel vorhalten wollen. Wer weiß es.
Quelle: Barbara Kaiser
Julia Henning (Sopran), Christiane Carstensen (Flöte)
Vorangestellt im Programm hatte Kantor Erik Matz allerdings schwerere Kost: Den Liederzyklus  „Lieder um den Tod" op. 62 nach Gedichten von Christian Morgenstern von Yrjö Kilpinen für Sopran und Klavier. Man erschrickt auch hier vor Textpassagen wie beispielsweise: „Durch die Lande auf und ab/ schreitet weit Bauer Tod;/ aus dem Sack um seine Schulter/ wirft er Keime ohne Zahl.“ Da war das kleine Intermezzo zwischen dem ernsten und heiteren Teil, die Orchestersuite Nr. 2 (BWV 1067) für Flöte, Streicher und Continuo des Leipziger Thomaskantors, etwas zum Aufatmen, Durchatmen.
 
Matz hatte kompetente und fähige Gäste für sein Programm eingeladen: Das Barockensemble mit Konzertmeisterin Galina Roreck und den bereits in der Vergangenheit außerordentlich positiv aufgefallenen Solistinnen an der Flöte (Christiane Carstensen) und den Oboen (Britta Hinrichs, Anke Nickel). Für den vokalen Part sorgte die Sopranistin Julia Henning, Erik Matz selbst saß am Flügel beziehungsweise dem Continuo.
Quelle: Barbara Kaiser
Britta Hinrichs, Anke Nickel (Oboen)
Die Konzertstunde des frühen Samstagabends bot geballte Anspannung und eine Balance zwischen Leidenschaft und Respekt, sicher stehend zwischen Tradition und persönlicher Anteilnahme. Ausnahmslos alle MusikerInnen sahen das Spiel als Pflicht und Verantwortung, nie als Selbstdarstellung.
Julia Henning besitzt einen Sopran mit einem beachtlichen Stimmumfang, der zur Dramatik genauso befähigt wie zur Poesie. Der Text der Bach-Kantate hatte nämlich durchaus Aphorismenqualität – das musste ins Publikum. Obgleich die Programmhefte der St.-Marien-Konzerte immer sehr hilfreich sind dabei. Die Instrumentalisten schafften eine Eleganz der Melodiebildung und ließen doch auch mit Schlichtheit dem Werk die Chance, sich selbst zu offenbaren.
 
Die Kontraste hätten nicht größer sein können. Anfangs die Todeslieder, die dem Zuhörer auch schon mal das Grausen lehren konnten. Als Übergang die wunderbare Orchestersuite mit flottem, aufgeräumtem Rondeau, munter-heiterer Bourrée, dem schnellen barocken Hoftanz, Polonaise und Menuett und dem Badinerie, einem  mutwilligen Spaß in Noten, der ein sehr bekanntes musikalisches Motiv ist. So modern und aktuell ist eben Bach!
Das hatte Wohlfühlqualität. Christiane Carstensen spielte die Soloflöte behände und fingerflink und an keiner Stelle aufstörend schrill. Das Streicherensemble schmiegte sich an und behauptete doch Eigenes.
Quelle: Barbara Kaiser
Brillant und exquisit die beiden Oboen in der Kantate; die Sologeige komplettierte souverän den schönen Gesamteindruck. Die Sopranistin stand ihren umfangreichen Part gestaltend und sicher durch. Erik Matz wird sich gefreut haben über ein gelungenes Konzert, das nie bloßer Schöngesang beziehungsweise Schönspiel war, sondern in dem die Noten mit Ausdruck und  musikalischer Charakteristik erfüllt wurden. Dafür gab es am Ende den verdient langen Beifall.
 
Am Samstag, 16. Juli 2022, erklingen beim 3. Sommerkonzert Videospiel- und Filmmusiken, bearbeitet für Orgel. Am Instrument auf der Empore Annika Köllner. Um 16.45 Uhr, St. Marien. [Anm.: Das Konzert am 16.07.2022 ist krankheitsbedingt ausgefallen.]

(Barbara Kaiser – 10. Juli 2022 – Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)

Besinnliches

St.-Marien-Sommerkonzerte starteten mit Ensemble Capella Nova und „Leipziger Allerley“

Der Gemüseeintopf, der traditionell Leipziger Allerlei genannt wird, besteht aus Zutaten, die dem Geldbeutel des Kochs entsprechen. Erbsen, Karotten, Spargel, Sellerie, Grießklößchen oder gar Flusskrebsschwänze gab es sicherlich nur im Patrizierhaushalt; das Prekariat der Stadt musste sich mit den Resten begnügen oder gar mit den Abfällen der Begüterten. Wenn ein Ensemble sein Musikprogramm „Leipziger Allerley“ nennt, darf man also davon ausgehen, dass Einwohner der sächsischen Metropole und deren  kompositorische Werke auf den Notenpulten liegen. Carsten Krüger, der Leiter des Chores Capella Nova (SELK Niedersachsen-Süd), versicherte obendrein, dass es in seiner Gemüse-Suppe nicht nur das Zusammengekehrte, sondern auch die Delikatesse Flussschwanzkrebse gäbe.
Quelle: Barbara Kaiser
Die St.-Marien-Sommerkonzerte haben begonnen, und auf das Publikum wartete bereits am ersten Tag ein schönes Programm: „Glaubenssätze und Psalmen, veredelt durch hervorragende Chormusik“, nannte es Kantor Erik Matz in seinen Begrüßungsworten und freute sich zudem sehr über die rund 100 Gäste, die in die Hauptkirche der Stadt gefunden hatten. Er versprach A- capella-Musik ohne Schnickschnack. Musik, die derzeit mit Hilfe von „Chordesign“ leider oft überfrachtet wird mit Licht, Bewegung oder zusätzlichen Bildern. Weil sich keiner mehr zutraut, dem Zuschauer/Zuhörer nur die pure Musik darzubieten, sondern glaubt, mit zusätzlichen Reizen verführen zu müssen. So ist das in der multimedialen Welt – und es gestaltet sich nicht immer zum Vorteil. Eher entsteht ja oft der Eindruck, man wolle von schlechtem Gesang ablenken.
Quelle: Barbara Kaiser
Diese Sorge bestand nun beim Auftritt von Capella Nova ganz und gar nicht.  Die rund 20 Sängerinnen und Sänger präsentierten sich als eine vielstimmige, besinnlich-besinnende Entschlossenheit. Im Glauben fest. Sie interpretierten  Johann Sebastian Bachs „Ich lasse dich nicht“ voller Freude und den Glauben gestaltend. Max Regers „Der Mensch lebt und besteht nur eine kleine Zeit“ kann nur anrührend und sehr innig genannt werden.
 
Es erklang Musik von mehreren Thomaskantoren wie Seth Calvisius, Johann Hermann Schein, Johann Kuhnau Johann Adam Hiller und Bach natürlich. Aber auch von Mendelssohn-Bartholdy, dem Gründer des Königlichen Konservatoriums, und Max Reger, dem Universitätsmusikdirektor und Professor ebendort. 

Ob sie alle immer glücklich waren in Leipzig? Reger beispielweise hatte ein recht distanziertes Verhältnis zur Stadt und scheute sich auch nicht, Streit mit Kollegen anzufangen. Ein Jahr vor seinem Tod zog er gar nach Jena um und pendelte lieber für seine Lehrveranstaltungen nach Leipzig. Außerdem war ihm das Orchester in Meiningen sowieso lieber als alles, was ihm Leipzig zu bieten in der Lage war… Dass er ausgerechnet in Leipzig sterben würde, wird ihm nicht Recht gewesen sein.
Quelle: Barbara Kaiser
Aber ganz gleich, um welchen Komponisten es sich handelte – die Spanne schwang sich ja vom Frühbarock bis zur Romantik – das Ensemble sang beeindruckend textverständlich und ergab sich ganz den Versen der Partituren. Der Sopran, der zu Beginn in den Höhen und im Forte manchmal ein wenig schrill daherkam, legte das während der Konzertdauer ab. So war das Fugato des „Alleluja“ in Bachs „Lobet den Herrn“ reine Freude, der Schlusston saß. Und das „Amen“ in Johann Adam Hillers „Der Friede Gottes“ war von umwerfender Reinheit und Zartheit, ohne das kleinste zitternde Vibrato am Ende.

Es war ein schöner, ruhiger Auftakt für die (nun noch acht) St.-Marien-Sommerkonzerte. Am kommenden Samstag, 09. Juli 2022, ist die Sopranistin Julia Henning mit Instrumentalisten zu Gast. Es erklingt das ausgefallene Konzert aus der Passionszeit: „…der Himmel wird es fügen“. Um 16.45 Uhr, St. Marien.

(Barbara Kaiser – 3. Juli 2022 – Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)

Chapeau!

Aufführung von Beethovens 9. Sinfonie in der Klavierfassung von Liszt in St. Marien 

Der Beifall: Nicht endend. Das Publikum: Euphorisiert. Was war passiert? Mit zwei Jahren Verspätung durfte der Pianist Hinrich Alpers endlich seinen Beethoven-Sinfonien-Zyklus mit der Aufführung der IX. beenden. Alpers’ Projekte sind ja immer ein bisschen größer. Vor ein paar Jahren die komplette Aufführung der Klaviersonaten des klassischen Meisters (32 x Beethoven), jetzt die Sinfonien. 
Die St. Marien Kirche war dafür außerordentlich gut besetzt. An der Seite des Instrumentalsolisten das Quartett Arminia Friebe mit wunderbar reinem, kraftvollem Sopran, Daniela Denschlag, eine standfeste Altistin, André Khamasmie mit seinem Tenor, der immer die Herzen schmelzen lässt, und Hanno Müller-Brachmann mit charismatischem Bass. Dazu ein Projektchor St.-Marien, Kantor Erik Matz zeichnete für die Gesamtleitung verantwortlich.
Die IX. also. Für unseren mehr oder weniger kleinen Kulturkreis steht die nun mal im Ranking ganz oben. Neben Goethes „Faust“. Man kann es nachträglich verstehen, warum Franz Liszt mit der Transkription zögerte. Denn was ein großes Sinfonieorchester mit all seinen Instrumentengruppen zu vertuschen weiß, macht ein einzelnes Instrument, das Klavier, offenbar: Man möchte sich nämlich der Meinung des einen oder anderen Musikwissenschaftlers, die, natürlich hinter vorgehaltener Hand, vertreten wird, anschließen: Die IX. Sinfonie ist nicht Beethovens Bestes. Hier klingen nicht der überzeugende Enthusiasmus und die erschütternde Trauer der VII., nicht die Lyrik und Ausgelassenheit der VI. (wo man in der Klavierfassung nicht einmal die Hörner vermisst!), auch nicht das tiefe Ringen der V., sich aus dem Dunkel ans Licht zu arbeiten. Dazu kommt, dass die IX. totgeschlagen wurde durch die unzähligen Interpretationen vor allem des Schlusschores bis hin zur Popgruppe.
 
Und so ertönen bei Beethoven (und Liszt) im ersten und zweiten Satz vor allem Brachialität. Oder ist es die Verzweiflung? Angesichts des Zustands der Welt und des Komponisten eigener Krankheit? Mit dem Gedanken dieser Sinfonie trug sich Beethoven lange, trotzdem lagen zehn Jahre zwischen VIII. und IX., obgleich die Vorgeschichte dafür ins Jahr 1812 zurückreicht. Erste musikalische Gedanken skizzierte die Partitur für eine Oper „Bacchus“ im Jahr 1817. Ein Jahr später erhielt die Sinfonie die Stichworte: „Im Adagio griechischer Mythos… im Allegro Feier des Bacchus.“ Die Oper wurde nicht komponiert. Aufschlussreich  ist auch diese Randbemerkung dazu: „Dissonanzen vielleicht in der ganzen Oper nicht aufgelöst und ganz anders, da sich in diesen wüsten Zeiten unsere verfeinerte Musik nicht denken läßt.“ Und weiter an einen Freund in Frankfurt schreibt Beethoven zur selben Zeit: „Was mich anbelangt, so ist geraume Zeit meine Gesundheit erschüttert, wozu auch unser Staatszustand nicht wenig beiträgt, wovon bisher noch keine Verbesserung zu erwarten, wohl sich aber täglich Verschlechterung desselben ereignet.“ Nach Prag gehen die Zeilen: „Leben Sie wohl. – Übrigens macht einen alles um uns nahe her ganz verstummen.“
 
Ist die IX. Sinfonie also doch eher ein Zeugnis der „wüsten Zeiten“? Und der begrabenen Hoffnungen, die nach dem Sieg über Napoleon sich eigentlich Raum schufen? Ist das „Verstummen“ die Klage über die europäische Friedhofsstille der Restauration? Und ist Schillers „Ode an die Freude“ – Schiller war immerhin Ehrenbürger der Französischen Republik –, die im Jahr 1785 entstand und mit der Beethoven von Jugend an verbunden war, die Konfrontation von Wirklichkeit und Ideal. Bei Schiller sehr wohl, bei Beethoven aber vielleicht sogar die Kontestation (Infragestellung) des neuen reaktionären Zeitgeistes, mit dem sich sogar ein  Goethe und Hegel ausgesöhnt zu haben schienen. Denn: Beethoven war immer auch Rebell!
 
Sicherlich knüpft Beethoven mit der IX. bei sich selbst an. Den mühsamen Weg von Bedrängnis zur Befreiung ist er in der V. schon einmal gegangen. Inzwischen jedoch ist der Weg beschwerlicher geworden, die zwei großen politischen Enttäuschungen in seinem Leben, Napoleon und die Situation nach dem Wiener Kongress, haben das musikalische Schaffen nicht leichter gemacht. So handelt der erste Satz der Sinfonie sicherlich von dem verzweiflungsvollen Zustand der Welt, die der Komponist beklagt. Auch der zweite Satz, (für die Oper als) eine wüste Feier des Bacchus (konzipiert), gewährt keinen Lichtblick der Freude. Ein faunisches Fugato, ein orgiastischer Tuttitaumel, dionysischer Exzess. Der dritte Satz: Der Traum eines Endzustandes. „Der Inbegriff eines völlig aufgelösten Kampfes“, sagte Schiller, „sowohl im einzelnen Menschen als in der Gesellschaft, einer zur höchsten sittlichen Würde hinaufgeläuterten Natur.“ Hier erscheint der klassische Mythos des Elysiums, dessen Tochter die Freude ist. In Satz vier bleiben die Freudenmelodie und D-Dur die dominierende Haupttonart, im Kontrast zu d-moll, dem „verzweiflungsvollen Zustand“. Ein atemloses Prestissimo schleudert der ganzen Welt ihren Kuss entgegen. In der Orchesterfassung halten übrigens Triangel, Becken und große Trommel Einzug in den Konzertsaal, was dem feinen Publikum zu allen Zeiten zu plebejisch war.
 
Muss man diese Geschichte nun mitdenken beim Hören der wohl bekanntesten Sinfonie? Sicherlich nicht immer. Schaden kann es jedoch nicht, einen Gedanken auch darauf zu verwenden, wenn sich alle Welt mit dieser Musik wieder einmal im dummen Freudentaumel selbst beweihräuchert und selber feiert. Man darf Beethovens Ringen einfach nicht so verkommen lassen.
 
Was haben die Akteure nun aus all dem gemacht? Wie anfangs beschrieben, war der Applaus am Ende überzeugend lang. Hinrich Alpers steht als Interpret immer für eine tadellose Ausleuchtung und einen sensiblen Umgang mit der Partitur. Liszt habe sich für diese IX. „ein paar clevere Ideen und auch Schwierigkeiten ausgedacht“, sagte er in der kurzen Einführung. Eine Schwierigkeit besteht schon darin, dass man auf 88 Tasten und mit nur zehn Fingern ein ganzes Orchester, von der Piccoloflöte bis zur Pauke, imaginieren muss, obgleich Franz Liszt eine eigenständige Klaviermusik schaffen wollte und keine Eins-zu-eins-Übersetzung der Beethoven’schen Noten. 
 
Es war also ein großes, buntes, aufregendes Spektakel, ganz großes Kino, das in St. Marien aufgeführt wurde. Wirklich wunderbare Gesangssolisten standen dem Chor zur Seite, der in den meisten Passagen sehr zu überzeugen wusste. Auch das hohe A ohne Tadel! Und die Doppelfuge mit dem superlangen Ton auf „Weeeeelt“ – Chapeau! Dass gegen Ende ein wenig der Schalldruck fehlte, sei verziehen.

Hinrich Alpers leistete Schwerstarbeit. Die atemberaubende Fuge in Satz vier mit – ja, wirklich – nur zwei Händen! Im Elysium des dritten Satzes durfte er seinen geschätzten sensiblen Anschlag und seine große Empathie variieren. Dieser Satz glitzert übrigens in impressionistischer Manier, was wieder einmal ein Licht wirft auf die Zeitlosigkeit des Komponisten Beethoven, respektive Liszt. Auch in der Wüstenei der Sätze eins und zwei verlor er die Übersicht nie, das beständige Forte musste aber für ihn, der eher ein Mann der leiseren Töne ist, eine Herausforderung gewesen sein.

Nach 80 Minuten höchster Konzentration und musikalischer Höchstleistung gab es zufriedene und erschöpfte Gesichter. Ein Beethoven – mal ganz anders. Eine fruchtbare Kooperation zur Freude aller Zuhörer und Beteiligten, die sich als wahrhaft engagierte Dienstleister des Komponisten erwiesen.

(Barbara Kaiser – 22. Mai 2022 – Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)

Zwei Stunden voller Dramatik

Johann Sebastian Bachs „Johannespassion“ in der St. Marien-Kirche

Uelzen – Der letzte Ton des Chorals „Ach Herr, lass dein lieb Engelein“ verhallt, andächtiges Schweigen folgt, dann setzt der Beifall ein – erst zögernd, dann aufbrandend, er will schier nicht enden. Sichtlich zufrieden nimmt Erik Matz am Sonntag in der gut gefüllten St. Marien-Kirche zu Uelzen die Ovation des Publikums entgegen. Zwei Stunden lang hat er den Chor von St. Marien, das Hamburger Barock-Orchester „Ensemble Historisch 21“ unter der Leitung von Konzertmeisterin Galina Roreck sowie die Solisten Yuna-Maria Schmidt (Sopran), Nicole Dellabona (Alt), André Khamasmie (Tenor), Konstantin Heintel (Bass) und Ansgar Theis (Bass) durch die 1724 in Leipzig uraufgeführte „Johannespassion“ geführt.

Zwei Stunden voller Dramatik, großer Ausdruckskraft und ergreifender Musik. In dem Werk schildert Johann Sebastian Bach, der Thomaskantor aus Leipzig, den mit der Kreuzigung und Grablegung endenden Leidensweg Jesu. Der Evangelist – wunderbar klar und sicher in allen Tonlagen: André Khamasmie – hat unbestritten die „Hauptrolle“, er führt durch das Geschehen, wird von dem Chor unterstützt. Monatelang haben die Sängerinnen und Sänger geübt, sich auf diese Aufführung vorbereitet und beeindrucken mit tadellos vorgetragen vierstimmigen Chorälen. Als „Jesus“ fragt Ansgar Theis im Garten Gethsemane die Häscher und Judas, der ihn verraten hatte: „Wen suchet ihr?“ Die Antwort: „Jesum von Nazareth“. Jesus antwortet „Ich bin‘s“. Sein getreuer Jünger Petrus (Konstantin Heintel) verleugnet ihn gar dreimal. Erst beim Hahnenschrei wird Petrus bewusst, was er getan hat.

Es folgen die Gefangennahme, die Befragung Jesu vor den Hohepriestern, dann der Dialog Jesu / Pilatus (ebenfalls Heintel), der durchaus seine Zweifel hat: „Ich finde keine Schuld an ihm“. Eigenhändig bringt er auf dem Kreuz die Aufschrift an: „Jesus von Nazareth, der Jüden König“. Auf die vom Chor gesungenen Vorhaltungen der Hohepriester „Schreibe nicht: der Jüden König, sondern dass er gesaget habe: „Ich bin der Jüden König“. Doch Pilatus mag dem nicht folgen: „Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.“ Im Weiteren erfüllt sich die alttestamentarische Weissagung – es kommt zur Kreuzigung, Jesus‘ Kleidung teilen sich die am Kreuz wachenden Soldaten. Seine letzten Worte „Es ist vollbracht“ werden von Nicole Dellabona in der gleichnamigen Arie übernommen. Nach dem Tod des Gottessohnes klagt Yuna-Maria Schmidt in einer zu Herzen gehenden Arie „Zerfließe, mein Herze, in Fluten der Zähren / Dem Höchsten zu Ehren! / Erzähle der Welt und dem Himmel die Not: Dein Jesus ist tot!“

Mit dieser Aufführung der „Johannespassion“ hat Erik Matz wieder ein künstlerisches Zeichen gesetzt: Ein stimmsicherer Chor, gepaart mit einem großartig aufspielenden Orchester und sich mit ihrem Gesang eindrucksvoll einbringen Solisten – der Beifall ist absolut verdient.

(Folkert Frels –12.04.2022 – Allgemeine Zeitung Uelzen | Lokales)

Auftakt zur Karwoche

Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion am Palmsonntag in St. Marien aufgeführt
 
Es war erst Palmsonntag, als Erik Matz und seine Akteure die Woche übersprangen und das atemlos lauschende Publikum in St. Marien mitnahmen nach Gethsemane, wo die Häscher an die Tür klopften und Jesu gefangen nahmen. Es bleibt die stete Frage, die man sich, zumindest in der menschlichen Dimension, stellen darf: Wie konnte sein, dass dieser Mann fünf Tage zuvor triumphal in Jerusalem empfangen wurde? Später nicht einmal seine engsten Vertrauten mit ihm wachen wollten, ihn verrieten, gar verleugneten und zuließen, dass er vor Gericht gezerrt wird? Dass sie „Kreuzige!“ schreien? Wie viel wert war diese Kollektivität von eigentlich Gleichgesinnten, den Jüngern? Wer zöge angesichts dieser Geschichte nicht immer währende Parallelen bis in die Gegenwart?

Die Johannes-Passion kam zur Aufführung. Diese Erzählung gemäß dem Bilde des Johannes-Evangeliums, das Johann Sebastian Bach auf Einheit und Zusammenfassung bedacht musikalisch behandelte. Der Ton des Ganzen ist entsprechend streng und bewegt sich in einem engen Kreis, das g-moll des Anfangschores bleibt der Kammerton des gesamten Werkes.
Rund drei Dutzend Sängerinnen und Sänger der St.-Marien-Kantorei, jeweils drei erste und zweite Violinen, zwei Bratschen, alle anderen Instrumentalstimmen einfach besetzt - „Das hat seinen Reiz und ich freue mich sehr darauf“, sagte Erik Matz vorab. Und: „ Der Chor klingt richtig gut und in den Proben stimmten die Intonation, der Ausdruck und die Textverständlichkeit.“ Zudem wüchsen die eigene Begeisterung und Hochachtung vor dieser Partitur und seinem Komponisten weiter, war sich Matz sicher. 
 
Zudem war auch er, wie in der eingangs gestellten Frage, darauf aus, „die Johannespassion  stärker in Verbindung treten (zu lassen) mit dem Jetzt und Hier. Was wollen uns die Texte sagen?“, überlegte der Kantor in der Vorbereitung, „was haben damals die Textdichter in ihrem Leben wohl alles erfahren, welche Kraft, welchen Trost und welche Erbauung hat diese Musik den Menschen früher gegeben, und was kann sie uns heute vermitteln? Das sind alles für mich lohnenswerte Gedanken.“
 
Hat diese Konzeption funktioniert auch im Publikum? Ganz offenbar. Aufregend, anrührend, zwischen Verzweiflung und Erlösung, hochenergetisch und ungeheuer spannungsvoll spulten die zwei Stunden ab, im Gefühl viel schneller als 120 Minuten normalerweise währen. Man saß gebannt und die Zeit verflog wie ein Wimpernschlag. Am Ende standen wieder einmal Lehre und Erkenntnis: Wie tief die alten Texte an Gegenwart rühren, wie modern Geschichte und Musik in all ihrer Erschütterung sind.
Es ist immer noch und vielleicht heute mehr denn je die Geschichte von Wahrheitssuche und Verleugnung, Hysterie, Reue und Verherrlichung. Die Johannes-Passion ist neben der Matthäus-Passion die authentischste, weil sie Bibeltexte wortgetreu vertont; als Choräle fungieren meist bekannte Kirchenlieder.
 
Kantor Erik Matz hatte sein Ensemble hervorragend vorbereitet. Es war ein Konzert nahezu ohne Defizite. Der vom ersten Ton unerhört sangesstarke Chor übernahm mehrere der verschiedenen Erzählperspektiven in jeweils angemessenem Kolorit. Er war die agil und in überzeugender Weise kommentierende, betrachtende und ermahnende Instanz in den Chorälen und stellte das fanatisierte, sein Opfer fordernde Volk eindringlich-hektisch, klar und energisch vors Ohr des Zuhörers.
Das Ensemble hatte die stimmige Beweglichkeit für die auf- und abwärts heulenden Läufe, die in die Dissonanz treiben ( „Wäre dieser nicht ein Übeltäter…“) und das Format für die scharf rhythmisierten Intervalle der Aufforderung  „Kreuzige, kreuzige…“. 
 
Das Rückgrat der Passion ist der erzählende Evangelist, der in André Khamasmie (Tenor) einen dramatisch erzählenden Partner besaß. Der Sänger verfügt in den Rezitativen über feine Nuancen einer gestaltenden, deutlichen Artikulation und war in guter Form für diesen Marathon. In den Arien blieb er manchmal schwächer. 
 
An seiner Seite die Bassisten Ansgar Theis (Jesus) und Konstantin Heintel (Pilatus, Arien). Beide mit einem wunderbaren und vor allem charismatischen Timbre begabt, das der Erhabenheit des Gottessohnes auch im Leiden beziehungsweise der souveränen Macht, die kaum einen Zweifel kennt, Stimme verlieh. Jesus` „Es ist vollbracht“ schwebte durch das Kirchenschiff und senkte sich wahrscheinlich in  jedes Herz – die Musik weicht hier nach h-moll, der Klagetonart Bachs. Yuna-Maria Schmidt mit einem beweglichen Sopran und Nicole Dellabona (Alt) ergänzten das Tableau der Solisten und agierten über weite Strecken auch glücklich.
 
An ihrer aller Seite ein Orchester, das durch die Gabe auffiel, die Instrumente klangvoll zu beherrschen und nur ganz selten zu prominent war. Die Musiker bezeugten auch in der genannten kleinen Besetzung an jeder Stelle souverän die Vielfalt Bachscher Harmonik. 
Dass Erik Matz in seiner ihm eigenen Unaufgeregtheit alles zusammen hielt, darf der Zuhörer erwarten. Es sei jedoch nicht vergessen, dass er zuvor alle Akteure zu dieser Präsenz und Höchstleistung getrieben hatte – allen Corona-Modalitäten zum Trotz.
 
Obgleich euphorischer Jubel sich nach dieser Erzählung verbietet, der Applaus in St. Marien war es dennoch. Vielleicht aber auch so lang anhaltend wie nachdenklich, schließlich hatte sich der Schlusschoral nach Es-Dur aufgehellt. Aber mit dem Palmsonntag beginnt die Karwoche, auch „stille Woche“ genannt. Zeit, das Konzert nachklingen zu lassen.

(Barbara Kaiser – 11. April 2022 – Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)
Wegen der Erkrankung einer Mitwirkenden musste das Konzert „... der Himmel wird es fügen“ am 3. April 2022 in der St.-Marien-Kirche Uelzen abgesagt werden. Das Konzert soll im Rahmen der Sommerkonzerte (Juli/August 2022) nachgeholt werden. 

Passions-Tripel – In St. Marien startete der Zyklus von drei Konzerten

Crucifixus

Besinnung und Sich-Besinnen sind in diesen Tagen das vielleicht wertvollste Rezept für das allgemeine Innehalten und Nachdenken in der Passionszeit, die ja auf die Katastrophe des Karfreitags zustürzt. Erik Matz lädt aus diesem Anlass zu drei Konzerten. Das erste war „Crucifixus“ benannt und hatte Chormusik auf dem Programm. Zu Gast war das Hugo-Distler-Ensemble aus Lüneburg.
Die zwei Dutzend Sängerinnen und Sänger aus der benachbarten Hansestadt sind eine vielfach ausgezeichnete Formation und trugen ihrem Ruf Rechnung. Mit einem glockenreinen Timbre von Beginn an, mit einer vorbildlich artikulierten Textverständlichkeit, die Fine-Töne stets sauber. Der Chor überzeugte mit beeindruckenden Crescendi, war im Piano atemberaubend, im Forte an keiner Stelle schrill.
So arbeiteten sich die Sänger durch Musikliteratur zwischen Barock (Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach), Romantik (Anton Bruckner) und Moderne (Arnold Mendelssohn und Hugo Distler). Der „Meininger Bach“, Johann Ludwig Bach, steuerte eine Motette bei und Antonio Lotti (1647 – 1740) den Konzert-Titel gebenden achtstimmigen Chor.
Das Hugo-Distler-Ensemble beherrschte die Balance zwischen Leidenschaft und Respekt, stand mit seiner Interpretation sicher zwischen Tradition und persönlicher Anteilnahme. Gesungen wurde mit einer Schlichtheit, die dem jeweiligen Werk die Chance ließ, sich selbst zu offenbaren. Erik Matz führte den zu jeder Zeit vollpräsenten Chor ohne überbordete Gesten, wie es dem Thema der Konzertstunde zukam.

Die 60 Minuten wurden kongenial gestützt und ergänzt durch die Lesungen. Almut Roeßler am Pult artikulierte wohlgefällig, ohne falsches Pathos und unaufgeregt. Wie sehr die klug ausgewählten Text Gegenwärtigkeit, ja Aktualität projizierten – das wird jeder Konzertbesucher empfunden haben.
„Seht hin!“ lautete die eindringliche Aufforderung in den Versen von Friedrich Walz (1932 – 1984), die die Einsamkeit Jesu vor seinem Tod beklagen. „Weil Qual und Sterben auf ihn warten / und keiner seiner Freunde wacht!“ Vom großen Aufklärer (neben Lessing) Christian Fürchtegott Gellert gab es die Ermahnung: „Ich will nicht Hass mit gleichem Hass vergelten…“ Wie vielen Politikern wünschte man in diesen Tagen  derlei Einsichten.

„Hilf uns armen Sündern zu der Seligkeit“, schloss der 4-stimmige Chor aus Heinrich Schütz’ Matthäus-Passion das Konzert. „Kyrie eleison“ – „Herr, erbarme dich“. Es gibt in dieser Gegenwart mehr als genug Anlässe, um Erbarmen zu flehen, sich darum zu mühen…

Am Ende des Konzerts standen die Zuhörer schweigend, ehe sie beeindruckt und nachdenklich das Gotteshaus verließen.
Das nächstfolgende Passionskonzert erklingt am Sonntag, 3. April 2022, 17 Uhr, St. Marien.

(Barbara Kaiser – 13. März 2022 – Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)

Voller Zuversicht

„Bach zum Kirchenjahresende“ – ein Konzert in St. Marien

Wenn der präferierte Fußballklub beim Landespokal gegen einen zwei Klassen niedrigeren Verein erst die Verlängerung braucht, um endlich das Tor zu treffen und zu gewinnen, ist das zum Haare raufen und man braucht was zum Blutdruck normalisieren. Da kam das Novemberkonzert zum Kirchenjahresausklang gerade recht. Kantor Erik Matz hatte dafür ausschließlich Partituren des großen Johann Sebastian Bach herausgesucht, eine Melange aus Concerto, Kantaten, Fantasie und Fuge Er hatte Thorsten Meyer (Bariton) und ein Instrumentalensemble unter Konzertmeisterin Dorothea Fiedler-Muth eingeladen und ein Projekt-Chorensemble begründet. Das Klangergebnis wurde am Schluss bejubelt.
Zu Beginn saß Matz an der Orgel für Fantasia und Fuge g-moll BWV 542. Er schrieb mir vorher zu diesem Werk, er kenne wahrscheinlich „kein emotionaleres von Bach“. Und so spielte er es auch: Zügig die groß angelegte Fantasia, sich vor zu viel Brei der Klangmasse in den Toccata-Abschnitten hütend. Er stolperte nicht in den dazwischengeschalteten polyphonen Teilen und in der Fuge erst recht nicht, machte sie zauberhaft gläsern. Er bewahrte die herzhaft-fröhliche Beweglichkeit des alten niederländischen Volksliedes, das ihr zugrunde liegt, und fand für die melodische Totalität in gewagter Modulation des Meisters Bach den richtigen Drive. Ein perfekter Auftakt!

Die Kantate BWV 82 „Ich habe genug“, die auf der Geschichte des Simeon fußt, dem prophezeit wurde, dass er nicht sterben werde, ehe er den Messias gesehen hat, gestaltete Thorsten Meyer artikulationsdeutlich, ohne übertriebene Forcierung in den Koloraturen und glaubhaft im Rezitativ. Das kleine Instrumentalensemble glänzte durch wunderbare Oboen und einen selig machenden Hörgenuss der Streicher. Sanft und anschmiegsam. Das freudige Vivace zum Abschluss ist wohl die richtige Einstellung, wenn es daran geht, dem Erdenjammertal zu entkommen. Bach hatte keine Angst vor dem Tod.

Das folgende Concerto in d-moll BWV 1060 war was zum Schwärmen. Voller Spielfreude dargeboten, mit einer Interaktion, die man sich von jedem Instrumentalensemble wünschte. Zwei Mal heiteres Allegro, eines fast wie ein atemberaubendes Presto, und ein Adagio zum Träumen. (Ach, diese Oboen!)

Am Ende der 75 Konzertminuten die „Kreuzstabkantate“ BWV 56, die Leid und körperliche Schmerzen genauso wie das Leben als Schiffsreise  thematisiert (Text: Bachschüler und Theologe Christoph Birkmann). Hier gilt es, das Violoncello hervorzuheben, das die Wellenbewegung des Wassers eindringlich vors Ohr stellte. „Ich will den Kreuzstab gerne tragen“ sang Thorsten Meyer, wobei die Silbe „Kreuz“ auf die Note cis (musikalisches Vorzeichen: ein Kreuz) fällt. Es ist gleich, ob man auf Erlösung hofft oder nicht – diese Musik war ungeheuer tröstlich. Eindringlich musiziert, voller (Glaubens-)Zuversicht dargebracht.

Und so war dieses Konzert eine Verheißung: Im dunklen November mit all seinen Trauertagen auf das Licht des nahenden Advents zu warten, zu vertrauen. Es war künstlerisch und mental ein starker Anker der Vorfreude.
(Barbara Kaiser – 14. November 2021 – Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)

Posaunen im Quartett

„Opus 4“ aus Leipzig spielte das letzte St.-Marien-Sommerkonzert 2021
 
Es war ein würdiger Abschluss! Einer, der nach „Gloria, Victoria!“ klang. War es doch wieder gelungen, die Reihe der St.-Marien-Sommerkonzerte durchzuführen. Nun sind neun Veranstaltungen, zu denen trotz pandemiebedingter Auflagen wieder rund 900 Zuhörer kamen, auch schon wieder Geschichte. „Es gab viele positive Rückmeldungen“, whats-appte Kantor Erik Matz aus dem Urlaub in den Dolomiten. Er jedenfalls war glücklich und zufrieden, dass es „sich so gut eingespielt hat“.
 
Für das Abschlusskonzert war „Opus 4“ aus Leipzig angereist. Die Bezeichnung Opus 4 wiese bei einem Komponisten auf Frühwerk. Das Ensemble gleichen Namens gibt es jedoch seit 27 Jahren, seine vier  Mitglieder hatten somit ausreichend Zeit für Reife. Dass dabei nichts zur faden Routine gerann, bewiesen Jörg Richter und Dirk Lehmann, die beiden Gründer der Vereinigung und Musiker des Gewandhausorchesters Leipzig, gemeinsam mit Wolfram Kuhnt und Michael Peuker. 
Quelle: Barbara Kaiser
Opus 4: Wolfram Kuhnt, Michael Peuker, Dirk Lehmann und Jörg Richter
Sie hätten „es gewagt und versucht“, dieses Instrument, das im Orchestergraben so oft zu kurz kommt, populärer zu machen, moderierte Jörg Richter vor einigen Jahren einmal ein Konzert an. Und was die Herren zu bieten haben, entwaffnet jedes Gegenargument! Kein eingetrübter Ton, kein rauer Hauch. Glanz in treffenden Nuancen und Farben, Eleganz und Lakonik des Ausdrucks. Die blitzschnellen Stimmungs- und Klangwechsel haben diese St.-Marien-Stunde musikalisch aufregend gemacht.

Hätte Bach von der Vielfalt gewusst, die eine Posaune zu entwickeln in der Lage ist, er hätte mehr für sie komponiert – darüber ist sich das Quartett auf jeden Fall einig. Die Zuschauer dürften diese Ansicht teilen. Aber die Musiker nutzen für sich – bei allem Respekt – auch ferne Partituren. Sie pendelten zwischen Monteverdi-Noten und Ragtime-Schmiss. Ein Quäntchen Bach, ein Häppchen Gershwin.
Sie beherrschten alle Töne: Den schmetternd-fröhlichen Blechlärm in Dur ebenso wie ein grabestrauriges Largo-Legato in Moll. Zarte, blütenreine Glissandi, Vitalität durch Kontur und Gestik. Hier wurde die emotionale Wucht der kleinen Form aufs Schönste entfaltet.

Die Geschichte von den Mauern einreißenden Blechbläsern wurde an dieser Stelle schon einmal bemüht. Beim Gastspiel der Herren von „Opus 4“ drängt sie sich jedoch geradezu auf: Allerdings sind Richter, Lehmann, Peuker und Kuhnt keine posaunenden Priester, die damals, im Alten Testament, den Kriegern voranmarschierten (eine interessante Konstellation, oder?).
Die Mauern von St. Marien standen nach dem Konzert noch, denn die vier Leipziger bewiesen, wie sanft das Blech zu handhaben sei.

Das Programm war mit „Von Bach bis Gershwin“ richtig benannt, versammelte aber auch Partituren aus dem Frühbarock (Claude Gervaise, Josquin des Pres) und natürlich Irvin Berlins (1888 bis 1989) berühmte Ragtime Band eines gewissen Alexander.
Was die Posaunisten boten, entwaffnete jedes Vorurteil, ihr Instrument tauge nur für Geschmetter! Nichts war in diesen 60 Minuten anzukreiden, alle und alles blieben über jede Kritik erhaben.

Das von Ideen überquellende Arrangement Daniel Suttons nach George Gershwins „An American in Paris“ war ein hochkomplizierter Wirrwarr, der zum Erstaunen des Zuhörers immer zueinander passt. Aber wer schon Johann Sebastian Bachs Toccata und Fuge d-moll (BWV 565) als atemberaubenden Höhepunkt im Programm hatte, dem sollte derlei Partitur keine Mühe bereiten.

Erstaunlich, welch großartiges Klangtableau allein vier Instrumente erstehen lassen können. Man glaubt, Vielstimmigkeit zu hören, dabei können es nur vier Stimmen sein. Die Kunst der Fuge und der Polyphonie mit vier Musikern – das macht den Leipzigern so schnell keiner nach. Das Ensemble spielte mit einer gläsernen Präzision, die man drehen und wenden kann – stets das gleiche Funkeln!
Makellose Ansätze, hüpfendes Staccato und zauberhaftes Legato, dazu Glissandi zum Niederknien. Barocke Gemächlichkeit, die trotzdem nirgendwo breiig zäh ist und jazzige gute Laune, die Straßenlärm imaginiert, als säße man auf der Avenue des Champs-Élysées.

Für den reichlich gespendeten Beifall hatte das Publikum am Ende genügend gute Gründe. Die Mauern von Jericho stünden also noch, hätten die Posaunen sich damals auf diese eine Seite ihrer Klangvielfalt  besonnen und sie intoniert. Aber damals war die Zielorientierung eben leider eine andere als die der guten Unterhaltung.
(Barbara Kaiser – 29. August 2021 – Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)

Der Liebe Freud und Leid

Das 8. St.-Marien-Sommerkonzert war ein Liederabend
 
„Es ist was es ist“, dichtete Erich Fried über die Liebe. Ob Unsinn, Berechnung, Unglück oder Schmerz. Auch lächerlich, leichtsinnig und unmöglich… „Es ist was es ist“. Mit diesem weiten Feld (Fontane) setzten sich im 8. St.-Marien-Sommerkonzert auch Heike Hallaschka und Erik Matz auseinander. Es war – ungewöhnlich genug für das Format Sommerkonzert – ein Liederabend.
Quelle: Barbara Kaiser
„Der Liebe Freud und Leid“: Erik Matz begleitete am Klavier die Sopranistin Heike Hallaschka.
Auf dem Programm standen die Wesendonck-Lieder von Richard Wagner (1813 bis 1883), vertonte Gedichte aus der Feder von Albert Sergel des finnischen Komponisten Yrjö Kilpinen (1892 bis 1959) und eine Auswahl der 61 Folk Songs von Benjamin Britten (1913 bis 1976).
 
Für Mathilde Wesendonck war die Liebe ohne Zweifel Qual, denn sie schrieb Verse auf, die Zeugnisse einer verhinderten Leidenschaft, von Verzicht sind, weil auf beiden Seiten der jeweilige Ehegatte im Wege stand. Richard Wagner wird das nicht so eng gesehen haben, war er doch sowieso der Meinung, dass jedem Künstler eine Muse zustände. Und in diesem Falle war eben Mathilde bei der Hand – die obendrein dichten konnte. Wenn man heutzutage die Verse einer sich ungeliebt fühlenden Frau an der Seite eines nachlässigen Gatten und ihr Sehnen nach dem vermeintlich besseren Geliebten noch Dichtkunst nennen will. Es ist eine recht schwülstige Angelegenheit, wie wir wissen. Todessehnende, romantische Texte, die dem Komponisten jedoch recht waren, denn er ging gerade auf Tristans Spur.
 
Heike Hallaschka lebte diese Klagen ohne sie der Lächerlichkeit preiszugeben. Ihre Stimme blieb souverän in den Höhen, stimmgewaltig auch, im Leisen genauso ausdrucksstark. Textverständlich sowieso. Und so verharrte das Publikum mit ihr an der Seite dessen, der „wahrhaft leidet“ und „sich in Schweigens Dunkel“ hüllt.
 
Erfrischend anders die Verszeilen, denen der Finne Kilpinen Noten anheim gab. Obgleich auch sie voller Idyllen sind, kommen sie leichtfüßig à la Heinrich Heine daher. In ihnen ist die Natur nicht nur ein Bild, das für die eigenen Schmerzen benutzt wird und das sich um das leidende Ich dreht, sondern es eröffnet dem Zuhörer eine ganze, meist heitere Welt. „Mein Herz, der wilde Rosenstrauch stand lichterloh in Blüten…“ Auch sind bei Kilpinen Gesang und Musik zwei eigenständige Angelegenheiten und nicht bloße Begleitung. Die Noten glitzern und rauschen und jubeln – während der Gesang die Zustandsbeschreibung dafür liefert.
 
Dass alle Liedtexte vorher von Almut Roeßler angemessen rezitiert wurden, war mitnichten Misstrauensvotum gegen Heike Hallaschka und ihre Gesangsdeutlichkeit. Vor allem bei den fremdsprachigen Liedern, den Folk Songs, erwies sich dieses Konzept als durchdacht nützlich.
So gab es die Erzählung über einen König, der zur Jagd reitet und eine schöne Schäferin zu verführen trachtet oder einen Jüngling, der „foolish“ genug ist, die angetragene Liebe des Mädchens auszuschlagen, weil er meinte, es müsse sich anders anfühlen. Er erklangen „Greensleeves“, die am Herzen rührten durch Hallaschkas Interpretation, und die Klage eines Mannes, der ein böses Weib freite, dem aber der liebe Gott nun auch nicht mehr helfen kann.
 
Am Flügel saß Erik Matz, und er war meist der einfühlsame Begleiter, den diese unterschiedlichen Lieder brauchten. Am Ende durfte er gar seine Stimme für einen Zwiegesang leihen und begründen, warum der Soldat das Mädchen doch lieber nicht zu ehelichen gedachte. 

Insgesamt war dieses 8. St.-Marien-Sommerkonzert eine ungewöhnliche, jedoch interessante Sache. Mit Akteuren, die sich ganz in den Dienst der Sache stellten. 

Am kommenden Samstag, 28. August 2021, ist die Zeit dieser Reihe schon wieder vorbei. Zu Gast sind dann die Barockposaunen  „Opus 4“ aus Leipzig, die musikalisch zwischen „Bach und Gershwin“ zu reisen vorhaben. 16.45 Uhr wie immer, das letzte Mal für 2021.
(Barbara Kaiser – 22. August 2021 – Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)

Musikalischer Querschnitt

Organist Matthias Böhlert spielte im 7. St.-Marien-Sommerkonzert

Der Kirchenmusikdirektor aus Salzwedel ist ein weit gereister Mann. Mattias Böhlert spielte auf Orgeln zwischen Japan, Australien, Südafrika, Kanada und den USA, aber genauso auf Instrumenten bedeutender Gotteshäuser hierzulande, wie den Domen zu Stendal, Magdeburg oder Schwerin, den Kirchen in Rostock, Leipzig, Erfurt, Mühlhausen und Halberstadt. Er gab Konzerte in den Kathedralen in Riga, Tallinn, St. Petersburg und Moskau, war in Wrocław  zu Gast und in Kazimierz Dolny, als die Orgel dort 400. Geburtstag feierte. In Uelzen war er auch. Im Jahr 2009. Nun, nach 12 Jahren, ist er wiedergekommen und spielte im 7. St.-Marien-Sommerkonzert europäische und amerikanische Orgelmusik aus fünf Jahrhunderten.
Quelle: Barbara Kaiser
Matthias Böhlert spielte an der Uelzener St.-Marien-Orgel.
Es war ein musikalischer Querschnitt, eine Melange, zwischen deklamatorischen Passagen, romantischer Verspieltheit und sinfonischer Wucht. Der Organist, Jahrgang 1956, verlor sich im Filigranen nicht, er lebte die Ausdrucksstärke und Klangschönheit dieser Musik und seines Musizierens, die Fähigkeit zu vielfältigen Nuancierungen, farbenreichen und konfliktgeladenen Steigerungen mit opulenten Höhepunkten voll aus.

Matthias Böhlert begann mit Noten aus dem 16. Jahrhundert, „Altpolnische Tabulatursätze“ von Jan de Lubin. Tabulaturen wurden ja zu Beginn des 14. Jahrhunderts dafür erfunden, mehrere Stimmen polyphoner Vokalmusik für ein Instrument zusammenzuschreiben, zu tabulieren. Die im Konzert gespielten bewegten sich zwischen bedächtig und ausgelassen.
Mit Johann Sebastian Bachs Fantasie G-Dur (BWV 572) schritt die Musikstunde voran. Den zierlichen Beginn nahm der Organist eilend, bis die wuchtigen Akkorde walteten. Er behielt die ganze Mehrstimmigkeit im sicheren Griff, obgleich er beeindruckend flink unterwegs war. Aber auch der gewaltige Schluss erklang sehr überzeugend.

Den Komponisten Jehan Alain hatte den treuen Sommerkonzertbesuchern Merle Hillmer in ihrem Konzert vor zwei Wochen mit drei Tänzen vorgestellt. Matthias Böhnert nahm den Franzosen, der, nur 29-jährig, im Zweiten Weltkrieg sein Leben ließ, ebenfalls ins Programm. Mit „Le jardin suspendu“ – der hängende Garten. „Der hängende Garten ist des Künstlers immer wieder gesuchtes, doch ungreifbares Ideal, seine unzugängliche und unantastbare Zufluchtsstätte“, beschrieb Alain selbst den unerreichbaren Traum eines Ortes der Freiheit und fasste ihn in Musik. Es blieben düster-tastende Noten.

Die Partituren des Baltendeutschen Ädam Ore und der Letten Nikolajs Alunas und Jazeps Vitols ließen für mich mehr Fragen zurück als sie Antworten gaben. Obgleich Ores Konzertsatz d-moll op. 36 mit einem Fanfarenstoß endete und Alunans Paraphrase über Robert Radeckes Lied „Aus der Jugendzeit“ einem seltsam bekannt vorkam und ein Ohrenschmeichler war.

Die Favoriten des Programms waren ohne Zweifel Albert Renaud und Théodore Dubois mit den Toccaten d-moll op. 108/1 beziehungsweise G-Dur. Die Franzosen sind eben die besseren Orgelkomponisten (im Zeitgenössischen), man denke nur an César Franck oder Léon Boëllmann.

Die Musik, die Matthias Böhlert auf dem Programmzettel hatte, war enthusiastische Klanggewalt und hochromantische Überwältigung (Renaud) einerseits und reinster Frohsinn gepaart mit furioser Virtuosität (Dubois) andererseits. Der Solist blieb traumwandlerisch sicher an der Seite der Komponisten, dass es eine Freude war, ihm zuzuhören.

In einer Woche gibt es einen Liederabend in der Sommerkonzertreihe. Es ist schon wieder die vorletzte Stunde am Samstag. Heike Hallaschka singt, begleitet von Erik Matz am Klavier, Lieder rund ums Thema Liebe. Ein weites Feld, wie Theodor Fontane sich sicher war. Am 21. August 2021 kann man das überprüfen. Um 16.45 Uhr, in St. Marien.
(Barbara Kaiser – 15. August 2021 – Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)

Ganz exquisit

6. St.-Marien-Sommerkonzert mit dem Duo „Conexus“

Hätte es noch eines Beweises bedurft, wie modern Bach ist und was man mit ihm alles machen kann (oder er mit sich machen lässt), dann wäre dieses 6. St.-Marien-Sommerkonzert ein schlüssiges Argument dafür. Was für ein Drive! Welche Frische! Das Allegro der Orgeltrisonate C-Dur (BWV 529) auf Akkordeon und Bratsche. Oberstimme und Bass fürs Akkordeon, Mittelstimme für die Streicherin. 

Das Akkordeon hat ja eine erfreuliche Karriere gemacht. Früher in Konzerten fast undenkbar und als Quetschkommode oder Schifferklavier diffamiert, taugt es heute für – ja, für Bach eben auch. Und Astor Piazolla sowieso.

Zu Gast in  St. Marien waren Tabea Höfer und Marek Stawniak als Duo „Conexus“. Ihr Programmtitel: Tango und Bach. „Wir haben einiges zu verknüpfen“, sagte Tabea Höfer in der Anmoderation, bezugnehmend auf den Namen, den sie sich als Duo gaben. „Uns hat die Neugier zusammengeführt, zusammen Piazolla und Bach zu spielen.“ Seit 2016 tun sie das gemeinsam. 
Quelle: Barbara Kaiser
Künstlerduo „Conexus“: Marek Stawniak (Akkordeon) und Tabea Höfer (Violine)
Und das ist ein atemberaubendes Miteinander! Piazollas „Invierno Porteño“ – Winter oder Regen in Buenos Aires – oder sein „Oblivion“ – Vergessen – oder das „Escualo“ –  Hai – waren vitale, aufregende und erotische Interpretationen. Die Geige zog am Herzen, während das Akkordeon, fingerflink gehandhabt, verlässlicher Begleiter in aller Schwermut blieb.

Um auch die Vorbilder Piazollas zu Wort kommen zu lassen, erklangen Noten von Béla Bartók und Igor Strawinsky. Während Bartóks „Sechs rumänische Volksweisen“ kurze Ideen, Skizzen, waren, ist Strawinskys „Tango“, wie es ein Tango zu sein hat, getanzte beziehungsweise gespielte Leidenschaft.
Ja, und dann der alte Barockmeister! Die erwähnte Orgeltrisonate stellten die zwei Instrumentalisten als leibhaftige, fröhliche Überzeugung vor unser Ohr, dass Musik über so manches hinweghelfen kann. Und das Präludium aus der E-Dur Partita für Violine solo (BWV 1006), das Sommerakademiebesucher in der Vorwoche schon einmal bei einem Abschlusskonzert zu hören bekamen, war unter den Händen von Tabea Höfer reine Virtuosität.

Die von Robert Schumann hinzugefügte Klavierbegleitung, die Marek Stawniak übernahm, mag man eine Anmaßung Schumanns nennen – hier allerdings störte das Tasteninstrument nicht. Unaufgeregt agierend, erwies es sich als anschmiegsam und grundierend. Die Geigerin absolvierte alle ihre Teile in traumwandlerischer Sicherheit.

Es war eine Konzertstunde, die so manche Partitur in ein anderes Hörlicht tauchte und belebte. Am Ende gab es jubelnden Applaus für diese zwei Musiker, die den Mut zu dieser ungewöhnlichen Paarung hatten.
Am kommenden Samstag, 14. August 2021, ist Matthias Böhlert aus Salzwedel zu Gast. Der Kantor spielt europäische und amerikanische Orgelmusik.
(Barbara Kaiser – 8. August 2021 – Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)

Tänzerisch

Merle Hillmer im 5. St.-Marien-Sommerkonzert an der Orgel
 
„Europäische Tänze aus fünf Jahrhunderten“ lautete der Titel, mit dem die junge Organistin Merle Hillmer antrat, das 5. St.-Marien-Sommerkonzert zu bestreiten. Und diese Zeitspanne war es am Ende auch, zwischen dem Geburtstag des ältesten und dem Sterbetag des jüngsten Komponisten – 1562 und 1940 -, die die Solistin durchschritt. Sie begann in der Renaissance und endete im Bombenhagel des Zweiten Weltkrieges. Dann war der Tanz eher ein Totentanz. 
Quelle: Barbara Kaiser
Mit Jan Pieterszoon Sweelinck (1562 bis 1621) und seinem „Ballo del Granduca“ eröffnete ein Schreittanz das Programm. Wie es der Titel verheißt: Der Ball des Großherzogs. Falls sie im England des 16. Jahrhunderts schon Musikimport aus den Niederlanden betrieben, sähen wir zu diesen Takten Shakespeare tändeln und Königin Elisabeth I. ihrem Lover Blicke zuwerfen. Wer weiß es. Merle Hillmer schuf für diese Hofgesellschaft eine lockere, musikalische Atmosphäre, in der gegessen, geschwatzt, geflirtet und eben auch getanzt wurde. Per Distanz selbstverständlich.
 
Johann Sebastian Bachs (1685 bis 1750) Toccata, Adagio und Fuge C-Dur (BWV 564) hat mit diesen Tänzen nichts zu tun. Es war aber ein Erlebnis, sie nach dem Benefizkonzert am Donnerstag wiederzuhören: Fröhlich in der Grundstimmung, das Adagio bedenkend und ach, die Fuge! Ein Drängen und Jubeln. Merle Hillmer spielte mit Genauigkeit, aber ohne Pedanterie. In einem Tempo, das weder jagte noch schleppte, sondern sich Zeit für Ausformung nahm.
 
Danach Bernardo Storace (1637 bis 1707) und „Balletto“. Eine zierliche Angelegenheit. Der Spitzentanz brauchte allerdings noch einmal mehr als 100 Jahre, ehe er erfunden wurde. Zu diesen Noten war er aber vorstellbar. Dann die Erfahrung, dass Bach eine Gigue als Fuge zu setzen versteht (BWV 577),was nicht  überrascht. Der Meister tauchte diesen fröhlichen Tanz im Dreiertakt so in ein ganz anderes Hörlicht.
 
Dann wurde es düsterer. Max Reger (1873 bis 1916) wusste eben auch schon viel vom Krieg. Es erklang seine Passacaglia in e-moll aus der Suite op. 16. Diese Art steht ja sowieso meist in Moll und hat einen melancholischen Grundsound. Bei Reger werden die (barocken) Noten romantisch aufgeladen und durchschreiten das düstere Piano, das sich lichtet und schwillt, das im Forte enden will, aber wieder herabsinkt, die Tempi und die Lautstärken ständig wechselnd. Die Organistin schuf ein durchsichtiges Klangbild der vertrackten harmonischen Gebilde polyphoner Musik.
 
Danach Jehan Alain (1911 bis 1940) und „Drei Tänze“. Alains kompositorisches Schaffen wurde nicht nur durch die musikalische Sprache von Claude Debussy und Olivier Messiaen beeinflusst, sondern genauso durch fernöstliche Musik, Tanz und Philosophie, das neu erwachte Interesse an der Musik des 16. bis 18. Jahrhunderts und den Jazz. 140 Kompositionen stammen aus seiner Feder, ehe er, 29-jährig, im Krieg starb.
 
Merle Hillmer sagte im Gespräch, sie wollte diese Tänze schon immer einmal spielen und hat sich das restliche Programm drum herum gebaut. Wie gesagt: Es sind eher Totentänze, denn sie tragen die Titel „Joies“ (Freuden), „Deuils“ (Trauerfälle) und „Luttes“ (Kämpfe).
Synkopen geben einen unruhigen Rhythmus vor. Ein chromatisches Auf und Ab imaginiert Sirenen. Es ist eine beängstigende und bedrängende Musik. Optimismus? Nirgends!
 
Die 23-Jährige beherrschte die Noten souverän und bewies ein großes und beachtliches Gestaltungsvermögen ihrer Partituren. Die Zuhörer konnten dieses 5. Sommerkonzert sehr angeregt verlassen.

In einer Woche, am 07. August 2021, gibt es ein ungewöhnliches Duo. Mit „Conexus“ erklingen Violine und Akkordeon – Bach und Jazz. 16.45 Uhr, St. Marien.
(Barbara Kaiser – 1. August 2021 – Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)

Flut in Noten

Schwermütiges und Tröstliches

Uelzen – Es hat musikalische Passagen an diesem Abend gegeben, die bedrohlich und düster wirkten; als solle mit den Noten das Furchtbare erzählt werden, was in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz geschehen ist. Menschen sind in den Fluten umgekommen, andere verloren alles an Hab und Gut. Für die Opfer der Flut hat es am Donnerstagabend in der Uelzener St.-Marien-Kirche ein Benefiz-Konzert gegeben, dessen Reinerlös gespendet wird.

Erik Matz, Kirchenmusiker für St. Marien und Kreiskantor, hat für die Veranstaltung „Helfer“ in der Gemeinde und beim Rotary-Club sowie herausragende Musiker gefunden, die spontan zusagten. Die zugelassenen Sitzplätze für Besucher im Gotteshaus waren fast gänzlich besetzt. Auffällig: Das Publikum blieb den Abend stumm, wirkte geradezu introvertiert. Kein Rascheln, kein Hüsteln oder Handyklingeln. Kein Zwischenapplaus oder Jubelrufe wie noch beim Sommerkonzert am Sonnabend.

„Rette mich, Gott hilf mir“ heißt es im Psalm 69. Dr. Jan König rezitierte ihn. Es ist ein Psalm der Klage, des Flehens, der im Glaubensbekenntnis mündet, dass Gott dieses Gebet erhören wird.

Die Besucher hörten Bach. Merle Hillmer spielt die dreiteilige Toccata C-Dur. Mit feinfühlig gewählter Soloregistrierung geht sie unter die Haut, wirkt teils düster, erschütternd, geradezu schwermütig. Saxophonist Niklas Wienecke spielt mit Erik Matz. Besonders die Sätze aus der Suite „Rhapsody“ von Naji Hakim ließen wieder Assoziationen aufkommen.

Zwischen den Stücken immer wieder Texte – Goethes „Das Göttliche“ oder auch Hesses „Das Glasperlenspiel“. Erik Matz paarte beim Programm Virtuosität mit großem Feinsinn und Dramatik, es begab sich herab in die Tiefen und schwang in der Höhe – ein Motiv, das die Liebe Gottes zeigen sollte.

Zum Abschluss ein dreigeteilter Block mit „Brassonanz“: „Eigentlich sind wir 12“, berichtet Tubaist Lukas Strieder, in St. Marien spielen sie zu fünft. Barockes, Strahlendes voller Pracht durchwebte die Kirche, das weltberühmte „A Londonerry Air“ bis hin zum liedhaften Quintett des Filmkomponisten Michael Kamen. 

Noch ist nicht alles gezählt, was an Spenden über den Rotary-Club, den Eintrittsgeldern und Abendspenden zusammen gekommen ist. Es geht aber in Richtung 10000 Euro.

(Ute Bautsch-Ludolfs, 31.Juli 2021, Allgemeine Zeitung Uelzen)

Für Trost und Hoffnung

Gemeinschaftsbenefizkonzert der St.-Marien-Kirchengemeinde
und des Rotary Clubs Uelzen für die Flutopfer


Der Moderator des Abends, Dr. Jan König, zitierte eingangs Psalm 69: „Gott, hilf mir! Denn das Wasser geht mir bis zur Kehle. Ich versinke in tiefem Schlamm, wo kein Grund ist; ich bin in tiefe Wasser geraten, und die Flut will mich ersäufen.“ Dass das Bild, den dieser Vergleich vor unser Auge stellt, im Aktuellen Falle kein Sinnbild ist für menschliche Orientierungslosigkeit, sondern es eine wahrhaftige Sintflut – wenn auch nicht von Gott geschickt – war, die Dörfer und Stadtteile im Westen dieser Republik hinwegspülte, weiß seit zwei Wochen jeder. 

Nein, dieses Mal passierte es nicht im fernen Indien. Das uns dann immer nur einen kurzen Filmbericht wert ist. Dieses Mal traf es zum wiederholten Mal bereits Mitteleuropa mit einer unvorbereiteten Wucht, die Nichtbetroffene fassungslos zurück ließ, und alle diejenigen, die Hab und Gut verloren, an den Rande der Verzweiflung brachte.

Wenn es Hoffnung gibt und Trost, dann erwachsen die aus der zupackenden Solidarität, der praktischen Hilfe, die den Landstrichen seit den Unwettern von überall zuströmen. Millionen Euro wurden eingesammelt, Helfer von THW und Bundeswehr, aber auch Privatpersonen wollten nicht nur zusehen. Vielleicht steckt ein Stück des von Goethe beschriebenen „edlen Menschen“ (wie ihn Jan König im Gedicht „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ rezitierte) doch noch in uns allen – dann wäre die Welt nicht verloren.

Auch die St.-Marien-Kirchengemeinde und der Rotary Club Uelzen fanden sich zu einem gemeinsam veranstalteten Konzert zusammen, das am Ende rund 3000 Euro an reiner Spende einspielte. Die Musiker traten selbstverständlich ohne Gage auf.

Merle Hillmer und Erik Matz saßen an der Orgel. Niklas Wienecke ließ sein Saxophon erklingen. Auch die Musiker von „Brassonanz“, dem Blechbläser-Ensemble um Lukas Strieder, waren mit von der Partie.
Barmherzigkeit, die Hilfe für in Not Geratene, ist ein Baustein jeder Religion. Im Islam sind die Spenden für Bettler vor allem im Ramadan Pflicht, so wie das tägliche Gebet und die Pilgerreise einmal im Leben. „Die Natur schickt uns nun die Rechnung“, sagte der Sänger Peter Maffay kürzlich in einem Interview, ehe er selber auf eine Bühne ging, um bei einem Benefizkonzert mitzuwirken. Vielleicht greift auch diese Erkenntnis Raum, wenn die ersten Tränen getrocknet und die Häuser wieder aufgebaut sind.

Und es ist gut zu sehen, dass so viele Menschen, ob nun aus christlicher Nächstenliebe oder auch ohne einen Glauben an einen Gott, aber im Vertrauen auf das Funktionieren von Solidarität und Mitmenschlichkeit, jetzt fremdes Leid nicht ignorieren. Es wäre noch besser, das funktionierte  genauso ein Stück weit globaler. Damit am Ende keine Mensch auf dieser Erde mit Psalm 69 sagen muss: „ Ich habe mich müde geschrien, mein Hals ist heiser. Meine Augen sind trübe geworden, weil ich so lange harren muss…“
(Barbara Kaiser – 30. Juli 2021 – Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)

„Bravo“-Rufe in St. Marien

Blechbläser-Ensemble „10 for Brass“ begeistert Publikum

Uelzen – „10 for Brass-Fanfare“: Mit dem letzten Stück des Festkonzerts „10 Jahre 10 for Brass“ beim 4. Sommerkonzert 2021 am Sonnabend in der ausverkauften St.-Marien-Kirche Uelzen kam so richtig zum Ausdruck, was dieses einzigartige Blechbläser-Ensemble ausmacht: Lust, Leichtigkeit, Leistungsfreude- und Leidenschaft.

Der niederländische Bassposaunist und Komponist Steven Verheilst (*1976) hatte auf die Bitte hin: „Schreib’ uns mal ein Stück, genauso wie wir sind“ geliefert. Und sie sind klasse: ungemein ausdrucksstark, technisch präzise und gut im Miteinander. Das kam nicht nur bei diesem Signalstück, sondern bei der Vielfalt der Stücke unterschiedlicher Epochen und Genres genau rüber. Mal heiter, dynamisch, farbenreich, strahlend, perlend, keck, aber auch wunderbar besinnlich, ruhig und einnehmend.

Das Ensemble ist auf Jubiläumstournee: zehn Jahre „10 for Brass“, dabei sind es rechnerisch schon elf. Aber Corona machte letztes Jahr einen Strich durch die Planung. Auch gehören beim genauen Nachzählen zwölf Personen dazu, auch zwei Frauen. Eine ist Hornistin Swantje Vesper mit Wurzeln in Wichmannsburg, Mitbegründerin, die die Musiker immer in den Norden holt. Aus den Studenten von einst sind längst feste Mitglieder renommierter Orchester geworden.

Stand am Anfang des Programmes Bachs Concerto D-Dur – besonders nach dem prächtigen 1. Satz sehr weich und feinsinnig im tollen Dialog des Soli im Larghetto – so folgte noch ein Stück des Altmeisters: „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ (Schübler) – eigentlich ein Orgelstück. Sehr fließend und zum Abschluss hin fast drängend im wunderbaren Instrumentenwechsel des cantus firmus.

Nach der imposanten festlichen Ouvertüre von Dimitri Schostakowitsch, bei der vor allem die Trompeten glänzen, gibt es „Bravo“-Rufe. Dann folgt Derek Bourgeois’ fünfsätziges Bläserwerk „William Mary“, das besonders beim klagenden „The Death Of Mary“ an den britischen Komponisten Elgar denken ließ. Und trotz der herzlichen Botschaft „Auf Wiedersehen“ gab es doch noch eine Zugabe, bei der die professionellen, jungen Musiker nochmals das Publikum mitrissen, sich voll ins Zeug legten, ihre große gemeinsame Spielfreude zeigten. Und zwar beim legendären „Spain“ von Armondo Anthony Chick Corea – Jazzpianist, Komponist, Meister des Mismatch.
(26. Juli 2021, Ute Bautsch-Ludolfs, Allgemeine Zeitung Uelzen / LOKALES)

Perfekter Blechkrawall

„10 for Brass“ überzeugend im 4. St.-Marien-Sommerkonzert
 
Es war im sehr frühen Frühling 2010, als ich mich durch heftiges Schneetreiben nach Wichmannsburg kämpfte, um das Gründungskonzert der jungen Truppe „10 for Brass“ nicht zu verpassen. Zum Glück waren damals andere auch so mutig, und so geriet dieser erste Auftritt um das Gründungsmitglied Swantje Vesper (Horn) zu einem richtigen Triumph. Die Studenten von damals, die in Hamburg, Köln, Berlin und Weimar ihr Instrument studierten, rissen das Publikum hin. Anders kann man es auch in der Rückschau nicht sagen. 
Die Idee, in dieser Formation „auf hohem Niveau zu musizieren“, wie sie es damals in der Moderation ansagten, verriet hohes Selbstbewusstsein und durfte neugierig und gespannt machen. Zehn (eigentlich 12) für Brass, zehn für eine Blechbläserformation, wie sie sich vor  200 Jahren in Großbritannien entwickelte (brass = engl.: Messing). Blechbläser, diese sensiblen Stellen eines jeden Orchesters. Schmetternde Trompeten, schmachtende Posaunen und Hörner, die bedächtigere Tuba dazu.
 
Jetzt war „10 for Brass“ wieder da, feierte mit einem Jahr Verspätung seinen zehnten Geburtstag. Die Studenten von damals, neun von 12 sind noch dabei, haben sich etabliert und spielen in renommierten Orchestern wie den Bamberger Symphonikern, den Berliner Philharmonikern oder im WDR Funkhausorchester. Sie hatten Auftritte zwischen der Elbphilharmonie und Japan, veröffentlichten drei CDs und sind mehrfach ausgezeichnet.
Auf die Frage, warum man sich die Arbeit in solch kleinem Ensemble immer noch antut angesichts der weite Anreisen zu notwendigen Proben, antwortet Swantje Vesper schlicht: „Wir kennen uns alle sehr gut, sind auch befreundet.“ Und in solch einer Formation sei es eine ganz andere Art des Musizierens, das einfach nur Spaß mache.
 
Das Konzert im 4. St.-Marien-Sommerkonzert war ein „Best of“ der zehn – eigentlich elf – Jahre „10 for Brass“. Es bewies die Vielfalt und den Variantenreichtum dieser Instrumentalbesetzung. Da spielten immer noch Solisten zusammen, die sich nicht einzeln profilieren wollten, sondern makellosen Klang im Miteinander erstreben. In flexibler Dynamik, virtuos auftrumpfend. In feinnerviger Wiedergabe und silbriger Transparenz. 
 
Beginnend mit dem Bach-Concerto D-Dur, hatten die Instrumentalisten die zahlreichen Zuhörer sogleich auf ihrer Seite. Stimmgewaltig-fröhlich das Allegro, zum Anbeten das Legato (Larghetto) mit Bachtrompete. Des Meisters Weckruf „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ (BWV 140) hätte es nicht bedurft: die Zuhörer waren hellwach.
Danach entführte das Ensemble ins Venedig der Renaissance mit Giovanni Gabrielis „Canzon XIV“ und in die Sowjetunion des Jahres 1954, wo Dmitri Schostakowitsch eine „Festliche Ouvertüre“ für den 37. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in nur drei Tagen komponierte.
Nebenbei: Dass die Moderation in diesem Falle so ignorant (oder arrogant?) war und von „Schikanen in Russland“ sprach, die den Komponisten wohl antrieben, schmälert mir immer den Musikgenuss. Im Oktober 1954 war Stalin schon eineinhalb Jahre tot und Schostakowitsch ein hochangesehener Künstler. Und das Land hieß immer noch Sowjetunion.
 
Mit der musikalischen Geschichte von „William and Mary“ – William III. von Oranien, der Ende des 17. Jahrhunderts Stadthalter der Niederlange war und nach dem Tod seiner Frau auch König von England, Schottland und Irland – strebte das Konzert seinem Ende entgegen. Der Brite Derek Bourgeois (1941 bis 2017) setzte für diese Liebesgeschichte die Noten, die ein vielstimmiges Spektakel sind. Flott und meist tonal.
„10 for Brass“ wussten das Ganze fein timbriert aufzuführen. In sehr kultiviertem Ton
 erklang auch das Schlusspanorama, die für das Ensemble eigens von Steven Verheilst (*1976) komponierte „Fanfare“. Die klingt wie im Hollywoodfilm kurz vorm Happyend.
 
Und überhaupt: Wenn, wie in der Ankündigung versprochen, in diesem Konzert das „Best of“ aus elf Jahren zur Aufführung kommen sollte, dann müssen es Jahre voller Glanz gewesen sein. Eigentlich haben die Akteure damit gehalten, was sie damals, in Wichmannsburg, versprachen: Kammermusik auf hohem Niveau.

Am kommenden Samstag, 31. Juli 2021, sitzt Merle Hillmer für das 5. Sommerkonzert an der Orgel und spielt europäische Tänze aus fünf Jahrhunderten. 16:45 Uhr, St. Marien.
(Barbara Kaiser – 25. Juli 2021 - Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)

Fantastisch fantasievoll

Beim 3. St.-Marien-Sommerkonzert saß Kantor Erik Matz an der Orgel
 
Der Schluss überwältigte. Im Fortissimo feierte Max Reger in seiner Fantasie zum Luther-Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ (op. 27) den Sieg über den Teufel. Und Erik Matz an der Orgel feierte mit: Lustvoll, schwungvoll, überbordet, dennoch kultiviert bleibend in der Ekstase. 
Quelle: Barbara Kaiser
Erik Matz an der St.-Marien-Orgel
Im 3. St.-Marien-Sommerkonzert saß der Kreiskantor selbst am Instrument und hatte sein Konzert mit „Fantasievolles für Orgel“ überschrieben. Und dieser Reger war unbestritten der Höhepunkt. An fantastischer Tonkunst, an fantasievoller Ausarbeitung der schlichten Melodie durch den Komponisten und an gediegener Darbietung des Solisten. Ein hochromantischer Krawall, der im Zwerchfell vibrierte, das Herz anrührte und der Seele aufhalf mit seinem Triumph.
 
Ansonsten war es ein Konzert zum Augenschließen. Zum Schweben und Entspannen. Abgesehen von kurzen, aufrüttelnden Ausbrüchen furioser Wucht. Wie zum Beispiel das Intermezzo aus Charles-Marie Widors Orgelsinfonie Nr. 2 op. 42. Das ist feinster Bombast. Aber schon das darauffolgende Cantabile beruhigte die Gemüter wieder.
 
Schlicht und unaufgeregt bot Matz auch die drei Choralbearbeitungen  von Johann Ludwig Krebs, dem Noch-Zeitgenossen von Johann Sebastian Bach. Mit dem war das Konzert eröffnet worden: Toccata, Adagio und Fuge C-Dur BWV 564.
 
Dieses virtuose Werk begann ungewohnt seltsam quäkend - und man fragte sich, ob es Erik Matz in der originalen Registrierung spielte – mit 32stel-Läufen im Manual. Aber nur, weil ich es anders kenne, muss ich ja nicht herumkritteln; und bei der humorvollen Fuge, bei der sich die Einzelstimmen so schön verfolgen ließen in Matz’ Spiel, war ich sowieso versöhnt. Vielleicht schon beim gedankenvollen Adagio in Moll, das bewegende Wirkung zeitigte.
 
So war das 3. St.-Marien-Sommerkonzert eine entspannte Angelegenheit. Zwischen filigranem Feinklang und großen Ballungen der Töne – echt fantasievoll eben. Wie versprochen.
Am kommenden Samstag, 24. Juli 2021, ist das Blechbläserensemble „10for Brass“ zu Gast in St. Marien. Wie immer 16.45 Uhr.
(Barbara Kaiser – 18. Juli 2021 - Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)

Zarte Töne

Duo Sappitatti im 2. St.-Marien-Sommerkonzert
 
Schon das erste Stück des Programms sollte die Zuhörer für sich eingenommen haben: Das drängende, schwelgende, seufzende „Leise flehen meine Lieder“ von Franz Schubert. Zu Gast im 2. St.-Marien-Sommerkonzert war das Duo Sappitatti, hinter dem Luisa Piewak und Simon Gutfleisch stehen. Sie an der Flöte, er an der Gitarre. Dieser Schubert war vertonte Zärtlichkeit. Welch satter Ton der Flöte, welch sichere Läufe. Auf den Punkt das Zusammenspiel.
Man kam irgendwie mit seinen schweifenden Gedanken – das Konzert lud überhaupt dazu ein, sich zurückzulehnen und zu träumen – zum „Land, wo die Zitronen blühn“. Was natürlich Quatsch ist bei Musik der deutschen Romantik. Trotzdem war das der Sound weicher, lauschiger (italienischer) Nächte. Vier weitere Schubert-Lieder ergänzten den ersten Block, bei dem sich glücklicherweise kein Zuhörer traute, die sinnliche Spannung, das heitere Schweben durch Beifall zu unterbrechen.
 
Der zweite Programmpunkt sprang fast 150 Jahre nach vorn: Arvo Pärt schrieb „Spiegel im Spiegel“ für Violoncello und Klavier im Jahr 1978. Das Kompositionsprinzip enthält zwei Elemente: Tonleiterbewegungen (Cello) und Dreiklangsstrukturen (Klavier). Dass das Stück mit Gitarre und Altflöte erklang, tat ihm keinen Abbruch. Die Akustik des Kirchenraumes kam dem zusätzlich entgegen. Es war ein wunderbar sanftes Legato-Andante.
 
Vor die „Carmen Fantaisie“ nach George Bizet setzten Piewak und Gutfleisch das „Entr’Acte“ aus der gleichnamigen Oper. Es ist das kurze Vorspiel zum 3. Akt, als Carmens und Josés Welt noch in der Ordnung scheint. Seltsamerweise denkt man bei diesen Noten an Peer Gynt und die „Morgenstimmung“ aus der Suite von Edvard Grieg. 
 
Mit der Moderation zur abschließenden „Carmen Fantaisie“ taten sich die zwei jungen Musiker keinen Gefallen. Weil man ein Konzert auch zerreden kann. Mit seltsam-fragwürdigen Requisiten erzählte Luisa Piewak die Handlung nach, unterstützt durch kurze Intonationen auf der Gitarre durch Simon Gutfleisch. Nun darf man davon ausgehen, dass jeder die berühmteste aller Carmens kennt, so wie er die Habaňera „Ja, die Liebe hat bunte Flügel“ oder das Auftrittslied des Escamillo mitsummen kann. So war man am Ende froh, als es endlich mit der Musik weiterging. 
 
Das jedoch, wie die ganzen 60 Minuten hindurch, funktionierte in kongenialem Miteinander, das an keiner Stelle schrillte oder quakte. Dass der Auftritt für die Flöte oft Renommierstück war, blieb angesichts der brillanten Absolvierung zweitrangig. Die Gitarre begnügte sich oft mit der verlässlichen Begleitung. Der Beifall am Schluss war verdient.

In einer Woche sitzt Kantor Erik Matz selber an der Orgel. Er verspricht „Fantasievolles für Orgel“ von Bach, Viérne und Reger. Samstag, 17. Juli 2021, 16.45 Uhr, St. Marien.
(Barbara Kaiser – 11. Juli 2021 - Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)

Furioser Auftakt

St.-Marien Sommerkonzerte 2021 starteten mit Christoph Schoener an der Orgel
 
Was für ein Auftakt der St.-Marien-Sommerkonzertreihe: Fast alle corona-erlaubten Plätze im Mittelschiff der Kirche besetzt, Christoph Schoener an der Orgel, und ein Programm zum Schwelgen und Staunen. Kantor Erik Matz freute sich angemessen, dass seine Konzerte, wie im vergangenen Jahr, wieder stattfinden dürfen (auf den November blicken wir jetzt besser noch nicht).
Quelle: Barbara Kaiser
Christoph Schoener beim 1. Sommerkonzert an der St.-Marien-Orgel
Christoph Schoener ist kein Unbekannter hier. Der ehemalige Hamburger Kirchenmusikdirektor von St. Michael, seit 2018 mit dem Titel Professor geschmückt, ist ein stets willkommener Gast. Schoener, Jahrgang 1953, studierte mit seinem Chor das wesentliche oratorische Repertoire zwischen Monteverdi und Bernstein, daneben unterrichtete er und konzertierte europaweit und in den USA. 
 
Aber natürlich hat so ein Musiker auch ganz persönliche Vorlieben, und als eine solche benennt er die Variationen und Fuge über ein Thema von Händel op. 24 von Johannes Brahms. Eigentlich für Klavier komponiert, transkribierte es die kanadische Komponistin und Organistin Rachel Laurin (*1961) für die Orgel. Schoener mag dieses Stück Musikliteratur schon immer, „in meiner jugendlichen Sturm- und Drangzeit hatte ich gedacht, ich würde es nie stemmen“, sagt er im Gespräch, denn natürlich ist es nicht ganz einfach. Sogar Clara Schumann, die es auf dem Klavier uraufführte, merkte an, sie habe „es zitternd durchgestanden“.  Nur Wagner, der selber nicht in der Lage war, alle Stimmen seiner musikalischen Schöpfungen ins Orchester zu übertragen, gab sich wiedermal abgeklärt: „Man sieht, was sich in den alten Formen noch leisten läßt, wenn einer kommt, der es versteht.“
Dass Schoener vor zwei Jahren den Mut fand, sich daran zu wagen, ist nun Gewinn für sein Publikum.
 
Zunächst aber begann das Konzert mit Orgel-Rauschen: Johann Sebastian Bach – Fantasia super „Komm, Heiliger Geist, Herre Gott“ (BWV 651) aus der Leipziger Originalhandschrift. Das einzige Stück in dieser Konzertstunde übrigens, das für Orgel komponiert wurde, die drei folgenden Nummern waren ursprünglich Klavierliteratur. Aber, so der Gast, er habe einfach mal Lust gehabt, diese Variationen über la Folie d’Espagne von Carl Philipp Emanuel, auf die Orgel zu übertragen. Bei der Toccata D-Dur (BWV 912) hatte Schoener dann die Hilfe von Max Reger, der schrieb die Partitur vom Klavier- bzw. Cembalosatz um auf die Königin der Instrumente. 
 
Die Variationen vom Bach-Sohn wirkten manchmal ein bisschen verloren. Aber eingerahmt in der Programmfolge durch seinen Vater ist das vielleicht kein Wunder. Die Toccata kam forsch und eilig von der Empore, weil eine Toccata nichts für Schüchterne ist. Ein schönes gehendes Moderato, ehe das große Tableau zum Ende strebte.
Denn eigentlich waren alle diese Vorspiele die Vorbereitung auf den Brahms, der fast 35 Minuten in Anspruch nahm. Auf dem Klavier schafft man es fünf Minuten kürzer.
 
Die eingängige Aria, hergenommen aus Händels B-Dur-Suite von 1733, ist das Entree. Dann kann man die 25 Variationen, denen Christoph Schoener jeweils exzellente, durchhörbare Charaktere verleiht, mitzählen. Obwohl es manchmal nicht so klingt, durch synkopische Effekte zum Beispiel, behalten alle den Viervierteltakt bei, die meisten bleiben auch beim B-Dur.
 
So ist das Werk voller Dynamik, zwischen chromatischen Läufen, wallenden Crescendi und Pianissimi. Zwischen vermeintlichem Hörnerklang und Leierkastensound, bombastischen Clustern und zierlichen Tönen. Ab Variation 21 läuft alles schnurstracks auf die Fuge zu, die klangmächtig über die Zuhörer hereinbricht und im Fortissimo (beim Klavier: fff) schließt.
 
Diese Brahms-Variationen spielen in einer Liga mit Beethovens Diabelli- und Bachs Goldberg-Variationen. Sie sind ein Hörerlebnis. Der Solist war den Noten in jeder Hinsicht gewachsen. Er hielt alles diszipliniert klar und ließ sich nicht verführen durch den hochromantischen Rausch, der hier die Verbindung mit dem Barock sucht.
Am Ende gab es dankbaren Beifall. Auch dafür, dass im „Jahr der Orgel“ solch ein Auftaktkonzert möglich war und stattfand.
 
In einer Woche geht es leiser zu: Am Samstag, 10. Juli 2021, 16.45 Uhr, spielen Luisa Piewak und Simon Gutfleisch als Duo Sappitatti die Querflöte und Gitarre. Es erklingen Werke von Schubert, Pärt und Bizet. (Barbara Kaiser – 4. Juli 2021 - Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz)

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